Rhythm Changes - Jazz beyond Borders

Bericht von einer Konferenz in Amsterdam
WDR 3, 19.11.2014

 MODERATION
rhythmchanges-logoGuten Abend und herzlich willkommen bei WDR 3 Jazz; mein Name ist Michael Rüsenberg; ich habe im September eine Konferenz von Jazzwissenschaftlern in Amsterdam besucht - „rhythm changes“ - und werde in dieser Sendung darüber berichten.
Jazzwissenschaftler?
Wer nun für die nächsten 60 Minuten Fach-Chinesisch befürchtet, den kann ich beruhigen: ich hasse Jazz-Fachchinesisch - Sie werden es in dieser Sendung nicht hören.
Und selbst wenn Sie die Jazzforschung überhaupt nicht interessiert -
es gibt sehr attraktive Musik in dieser Sendung, u.a. eine afrikanische Fassung von „Take Five“.



HIROMI Life goes on 6:49, CD „Alive“

MODERATION
„rhythm Changes“, 3 Tage Anfang September in einem architektonischen Juwel, dem Musik-Konservatorium in Amsterdam.
3 Tage, gut einhundert Vorträgen in 29 Sessions.
125 Teilnehmer, die meisten davon selbst Vortragende, das waren doppelt so viele wie beim Start der „rhythm changes“-Reihe vor 3 Jahren, gleichfalls in Amsterdam; 2014 war die wahrscheinlich größte
Jazz-Konferenz aller Zeiten.
Gastgeber: Prof. Walter van de Leur von der Universität Amsterdam.

WALTER VAN DE LEUR
RC-vandeleurDie Jazzforschung hat große Fortschritte gemacht. Als ich in den frühen neunzigern dazu stieß, war ich von der Qualität vieler Publikationen erschrocken, es gab kaum Universitätsangebote zum Jazz.
Meine Universität hatte überhaupt nichts im Angebot, da gab es nicht einen, der überhaupt Ahnung vom Jazz hatte, was ihn ausmacht, was er bedeutet.
Scott DeVaux´s berühmter Aufsatz „Constructing the Jazz Tradition“ 1991 hat einen neuen Weg des Nachdenkens über Jazz bereitet, er war sehr einflussreich.
Viel gute Arbeit wird von Leuten geleistet, die z.B. hier anwesend sind. Es gibt einschlägige Jazz-Publikationen, das Feld steht in Blüte.
Diese Konferenz wird von vielen junge Leuten besucht, relativ jung -
wenn nur das Jazzpubikum im Durchschnitt 38 Jahre alt wäre und einen Frauenanteil von 25 Prozent hätte - da wären wir doch glücklich.
Das typische Jazzpublikum ist meist nämlich älter.
Die Jazzforschung aber ist voller dynamischer junger Leute!

MODERATION
„rhythm changes“ Amsterdam 2014, das wohl weltgrößte Treffen der Jazzwissenschaft: 125 Teilnehmer, aber nicht mal eine Handvoll deutschsprachiger Wissenschaftler.
Warum das, Walter van de Leur?

WALTER VAN DE LEUR

Es gibt immer wieder Sprachschwierigkeiten. Es ist schwierig, mit Leuten in Kontakt zu treten, denen es schwerfällt, Englisch zu sprechen.
Es gibt z.B. Leute in Deutschland, die es vorziehen, nach Darmstadt zu gehen, weil sie dort Deutsch sprechen können. Englisch scheint für manche doch eine Hürde zu sein.
Nein, damit fälle ich kein Urteil über die Qualität dieser Leute.
Da wird gute Arbeit geleistet, da gibt es z.B. jemanden, der schreibt über Charlie Parker auf Italienisch.
Und ich bin sicher, das ist eine tolle Arbeit, aber für mich halt schwierig zu verstehen.
Und offenkundig verspüren diese Leute auch gar nicht den Drang, mit uns in Kontakt zu treten, vielleicht haben sie uns nicht gefunden oder wissen nicht, dass es uns gibt.
Das ist immer wieder ein Problem.

MODERATION
„rhythm changes“, die weltgrößte Jazzkonferenz in Amsterdam.
Musik und Gesprächspartner in dieser Sendung orientieren sich an den jeweiligen lectures, den jeweiligen Vorträge - mit einer Ausnahme:
und das ist Hiromi, (die wir gerade mit ihrem Trio gehört haben).
Gleich in der ersten Session analysierte eine Dozentin aus Pittsburgh die enorme technische Virtuosität der japanischen Pianistin und konfrontierte sie mit den teilweise vernichtenden Facebook-Kommentaren - Hiromi wird verehrt von den einen und von anderen verschmäht als eine „Zirkusnummer“.
Leider stellte die Wissenschaftlerin das eine beziehungslos gegen das andere; das war bestenfalls eine Fleißarbeit, aber keine Arbeit von wissenschaftlichem Rang.

NII NOI NORTEY/NII OTOO ANNAN/STEVEN FELD Mood Duke, CD: "Topographies of the Dark"

MODERATION
Wesentlich mehr Geschick hatte „rhythm changes“ in der Auswahl der „keynotes“.
Eine keynote, das ist ein herausgehobener Vortrag, meist von einem prominenten Autor. Und in der ersten keynote in Amsterdam kam beides zusammen.
Der Autor: Steven Feld, 65 Jahre alt, emeritierter Professor für Anthropologie und Musik an der Universität von New Mexico.
Feld stellte sogleich das Kongreßmotto in Frage: „Jazz beyond borders“ - Jazz ohne Grenzen, oder auch: Jazz jenseits der Grenzen.
„rhythm changes“ ist nur der Reihentitel der Konferenzen.

STEVEN FELD
RC-feldDen Begriff „Grenze“ zu verwenden, wie beispielsweise in „Jazz jenseits von Grenzen“, finde sehr problematisch.
Es ruft automatisch die Frage hervor, aus welcher Perspektive spricht man eigentlich? Auf welcher Seite einer angeblichen Grenze stehen wir?
Es stört mich sehr, dass die Leute, die so reden, sich damit recht einfach als Grenzüberschreiter feiern können.
Die meisten Menschen aber sind gar nicht im Besitz der entsprechenden Ausweispapiere.
Am Beispiel Accra/Ghana habe ich versucht zu zeigen, warum solche Begriffe problematisch sind. Durch Gespräche mit Musikern dort habe ich erfahren, wie Jazz einerseits Grenzen aufbaut, die man andererseits aber auch wieder abbauen kann.

MODERATION
Das ist das große Thema von Steven Feld, nachdem er sich als Musik-Ethnologe jahrzehntelang mit der Musik der Kaluli in Neu-Guinea befasst hat: Jazz in Ghana.

STEVEN FELD
Jazz hat in Accra eine völlig andere Bedeutung. Und ich spreche hier jetzt nicht von Genres oder musikalischen Stilen.
Jazz ist eine Imagination, eine spirituelle Erfahrung in Accra.
Es gibt durchaus Leute, die Swing oder Bebop und alles das spielen können, was wir unter der entsprechenden Literatur verstehen.
Es gibt Afrikaner, die die Berklee School of Music in Boston besucht haben genauso, wie aus allen anderen Teilen der Welt auch.
Viele verbinden mit „Jazz“ aber auch eine Vorstellung von Machtpolitik, Rassismus, Kolonialismus und die Rolle der Amerikaner dabei.
Für sie ist Jazz Ort der Freude, ein Ort der Errungenschaften der schwarzen Amerikaner.
Sie halten Jazz auf der anderen Seite für eine sehr eingrenzende Angelegenheit. Weil sie Afrikaner nur in der Vergangenheit positioniert, nicht in der Gegenwart.

MODERATION
Hier spielt Steven Feld, und zwar eine Art „Kalimba-Bass“, zusammen einem amerikanischen Flötisten und mit zwei Musikern aus Ghana, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:der eine ist Nii Noi, er bedient das von ihm erfundenen „Afrifone“, eine Art Hupe mit Saxophon-Mundstück.

STEVEN FELD

Nii Noi Nortey ist ein sehr gebildeter Musiker. Aber er verfügt auch über eine kritische Einstellung zum Jazz, und zwar deshalb, weil er  sich stark in pan-afrikanischer Politik engagiert.
Er hält „Jazz“ für einen sehr einengenden Begriff im Rahmen dieser politischen Auffassung - sosehr auch die Hauptinspiration seines Lebens John Coltrane war.
Insofern hat er schon eine positive Anschauung von Jazz, und seinen  politischen, sozialen und spirituellen Aspekten, die er als erhebend und befreiend empfindet.
Zugleich aber sieht er das herrschende amerikanische Bild des Jazz als eine Art Albtraum für Afrikaner. Es ist ein Bild, das die Afrikaner in der Vergangenheit einfriert.
Und das einfach nicht versteht oder nicht verstehen will, wie sehr die Afrikaner von der gegenwärtigen Kraft dieser Musik fasziniert sind. Wie sehr  Afrikaner immer schon beeinflusst sind von Jazzstilen, aber eben auch diese selbst beeinflussen.

MODERATION
Im folgenden verwendet Steven Feld eine zentrale Vokabel der Konferenz in Amsterdam: narrative.
Gemeint ist damit weniger „das Narrativ“, wie wir es verwenden, (im Sinne von „Erzählung“), sondern gemeint ist die je verschiedene Auffassung von Jazz, ja die Art des Hörens generell.

STEVEN FELD
Die Art des Hörens erwächst nicht den Elementen der Musik selbst, sie entsteht im sozialen Umgang, sie entsteht in dem Milieu, in dem man lebt.
Nii Otoo Annan hat in dieser Hinsicht völlig andere Erfahrungen gemacht als Nii Noi. Deshalb spreche ich hier von sozialen „Klassen“.
Denn ich möchte betonen: es gibt nicht eine Art, in der West-Afrikaner Jazz hören. Sie hören auf sehr unterschiedliche Weise.
Und diese Unterschiede haben zu tun mit ihrer unterschiedlichen sozialen, kulturellen und historischen Herkunft.

NII OTOO ANNAN Afrika Take Five, CD: "Ghana Sea Blues"

MODERATION
Und hier spielt Nii Otoo Annan. Er ist nicht nur Perkussionist, sondern auch Gitarrist. Und interpretiert hier einen der größten Jazz-Klassiker: „Take Five“.
Aber, er spielt ihn nicht nur im 5/4-Takt, sondern legt darüber auch Spuren in 4/4 und 6/4.

STEVEN FELD
Nii Otoo Annan stammt aus der Klasse mittellosen Arbeiter, er hatte überhaupt keinen Zugang zu Büchern, Schallplatten und sonstigen Quellen wie Ninoi. Jazz ist für ihn das, was er im Radio bei „Voice of America“ gehört hat.
Und er dachte: alles, was sie dort spielen, sei schwarze Musik.
Die Debatten über ethnische Unterschiede, über Pluralismus in der Geschichte des Jazz kennt er gar nicht.
Jazz war für ihn grundsätzlich schwarz.

MODERATION
Nii Otoo Annan, Gitarrist und Perkussionist aus Ghana, spielt Paul Desmond´s „Take Five“.
 Steven Feld stellt dieses Stück auf der Konferenz „rhythm changes“ in Amsterdam vor. Unter den Zuhörern: der Sohn (nicht des Komponisten Paul Desmond), wohl aber des Bandleaders der Originalaufnahme, Dave Brubeck - der heute in London lebende Pianist Darius Brubeck.

DARIUS BRUBECK
RC-brubeckAls erstes habe ich natürlich versucht herauszufinden, was er da eigentlich macht. Ich war vollkommen überrascht und fand´s toll.
Wie offen er ist gegenüber weißen Musikern.
Alles in dem Vortrag von Steven Feld sprach mir aus dem Herzen.
Es hat dem Ganzen nicht ein historisches Schema von Authentizität oder ethnischer Überlegenheit übergestülpt, es ging ihm schlicht und einfach - um Musik.

MODERATION
Nii Otoo Annan, der Schöpfer von „Afrika Take Five“, hielt die Originalautoren von „Take Five“ - eben weil er sie nur aus dem Radio kannte - für schwarze Musiker.
Wir mögen verblüfft sein - Darius Brubeck war es nicht.

DARIUS BRUBECK

Das habe ich in Süd-Afrika auch erlebt.
Da war man auch sehr überrascht, dass ich ein Weißer bin.
„Ist Ihre Mutter weiß?“
„Sie werden´s nicht glauben: mein Vater auch!“

MODERATION
Darius Brubeck ist 67 Jahre alt; er hat häufig in einer Band mit seinem Vater gespielt. Er ist auch schon als Kind mit ihm gereist, auf dessen Tourneen als „Botschafter des Jazz“ im Auftrag der amerikanischen Regierung. Vor allem im Hinblick darauf wurde er in Amsterdam interviewt.

DARIUS BRUBECK
Ich habe die Überschrift der Diskussion akzeptiert: „Jazz - Eine Sprache für den Frieden“.
Aber mir war auch wichtig herauszustellen, dass Amerika nicht über Frieden reden sollte, solange es Guantanamo gibt sowie die ungerechte Einkommens-Verteilung im Lande.
Ich habe betont, dass Jazz kein Mittel ist, um für Amerika zu werben, aber gleichwohl doch eine Sprache für den Frieden.
Wegen des Potenzials, Leute zusammenzubringen.

MILES DAVIS QUINTET My funny Valentine (22.12.65), CD-Box: "Live at the Plugged Nickel"

MODERATION
WDR 3 Jazz, heute mit einem Bericht über die dritte und bislang größte Konferenz in der Reihe „rhythm changes“, Anfang September in Amsterdam - Motto in diesem Jahr :„Jazz beyond Borders“.
Gut 100 Vorträge, aus allen möglichen Gebieten, meist natürlich Musikwissenschaft, in denen man nachdenkt über Jazz.
Leider nichts aus dem Bereich „Hirnforschung“ (was auch die Veranstalter bedauern und in Zukunft abstellen wollen), und nur wenig aus dem Bereich „Philosophie und Jazz“ - ein Bereich, der gerade in Deutschland derzeit in Blüte steht.
Philosophisches klang gleichwohl an bei einem Mann, der einen deutschen Namen trägt (ohne Deutscher zu sein): Nicholas Gebhardt, er ist Dozent nicht für Philosophie, sondern für Pop und Medien an der Birmingham City University in England. 


NICHOLAS GEBHARDT
RC-gebhardtSprache und Musik sind zwei Arten, Bedeutung und Sinn zu generieren. Beide sind nicht das gleiche, aber auch nicht zu trennen.
Selbst wenn wir Jazz spielen, sind wir doch an linguistische Praktiken gebunden. Die Songs, die Improvisatoren häufig als Grundlage für ihre Soli benutzen, sind Songs ursprünglich mit Text.
Und ich denke, diese Worte sind Bestandteil der Art, wie sie ihre Soli gestalten - auch wenn sie unter vielerlei Abstraktionen vergraben sind.
Musik und Sprache befinden sich immer in einer gemeinsamen Bewegung, in einem Dialog.
Ich habe nicht gesagt, es gäbe eine Analogie zwischen Sprache, Philosophie und Jazz, aber ich habe doch versucht, die Verbindung zwischen ihnen aufzuzeigen.
Es gibt eine Beziehung zwischen Sprache und Musik, die sie immer wieder miteinander verbindet und dem Bedeutung gibt, was wir hören, aber auch was wir sagen.

MODERATION
Was Nicholas Gebhardt hier sagt, ist nicht im geringsten „abgehoben“, sondern kommt in der Praxis vieler - zumindest vieler amerikanischer Jazzmusiker - zum Ausdruck.
Nämlich dass sie, wenn sie „Standards“ spielen - also instrumental mit Vorlagen sich beschäftigen, die oft aus Musicals oder Schlagern herrühren - dass sie dabei zugleich immer auch an die Songtexte denken.

MODERATION
„ryhthm changes“ Amsterdam; wie gesagt, Musik und Gesprächspartner gehören meist zusammen.
Die Musik, die wir nun schon geraume Zeit hören, spielte eine große Rolle in dem Vortrag von Nicholas Gebhardt: „Must we mean, what we play?“ - Müssen wir meinen, was wir spielen?
Es ist einer der bekanntesten Standards, „My funny Valentine“, in einer berühmten Fassung vom Miles Davis Quintet, am ersten Abend der legendären Konzertreihe im „Plugged Nickel“-Clug zu Chicago, Dezember 1965.
Die große Pause, von der Gebhardt spricht, sie ist zu dem Zeitpunkt, den wir jetzt hören, leider schon vorbei...

NICHOLAS GEBHARDT
Ich beschäftige mich schon lange mit „My funny Valentine“, sowohl als Wissenschaftler, aber auch als Musiker.
Was mich an den beiden Aufnahmen aus dem „Plugged Nickel“-Konzert interessiert, ist die Bedeutung des Kontextes und des Raumes.
An beiden Versionen mag ich die Klänge im Raum, die Teil der Performance sind. Man hört also nicht nur Trompete, Piano, Bass, Saxophon und Schlagzeug - man hört gleichzeitig die Leute reden, Gläserklirren, man hört die Kasse.
Und ich kam ins Nachdenken darüber, wie die Art, in der Musiker spielen, sich auf den Raum bezieht, in dem sie das tun. Wie die Pausen, die Veränderungen im Ton, in der Struktur, in der Klangfarbe eines Tones mit dem Ganzen zusammenhängen.
Es gibt eine Pause in der Version von Freitag, dem 22. Dezember 1965, das Stück wird am nächsten Abend noch mal gespielt. Die Pause am ersten Abend ist sehr lang. Für mich hat sie damit zu tun, wie Miles Davis eine Verbindung zum Publikum aufbaut. Und wie man diese Verbindung einschätzt, hat eine Menge damit zu tun, wie wir uns den Verlauf einer Konversation vorstellen.
Was bewirkt so eine Pause? Sie kann einen in einem Vorhaben plötzlich stoppen. Sie bringt einen zum Nachdenken darüber, warum man eigentlich da ist.
Ich habe mich mit mehreren Leuten über diese Pause unterhalten, was sie nach ihrer Meinung bewirken soll.
Einer sagte, es sei eine sehr ausdrucksstarke Pause. Ein anderer meinte, es sei eine Methode, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, es wieder auf Linie zu bringen, indem man so lange wartet. „Hört auf zu quatschen, hört endlich zu!“
Ich weiß nicht wer recht hat. Ich will auch keinen Schluß daraus ziehen. Aber ich denke schon, die Pause ist ein sehr kraftvoller
Moment in dieser Aufnahme.

MODERATION
RC-md-zitat
In seinem Vortrag blendet Nicholas Gebhardt ein Zitat von Miles Davis ein, es lautet:
„Ich habe My funny Valentine sehr lange gespielt und mochte es eigentlich nie - doch plötzlich bedeutete es mir etwas“,
Ich bin mir nicht sicher, ob man Miles hier wirklich glauben kann.



NICHOLAS GEBHARDT


Ich mag dieses Zitat, selbst auf die Gefahr hin, dass es falsch ist oder eine Erfindung von Miles Davis. Es zeigt mir, ob wir nun einen Song angehen oder uns in eine Konversation begeben - ständig muss man dabei seine Ideen wiederholen, seine Gedanken, seine Aussagen, um schließlich zu entdecken, was sie eigentlich bedeuten.
In allen Gesprächen sagen wir immer wieder dasselbe, wir versuchen uns anders auszudrücken, wir wechseln die Tonlage.
Die Schönheit eines Jazz-Solos liegt für mich genau in diesem ständigen Ausprobieren, Verändern, Zurückgreifen auf dasselbe Songmaterials, dieselben Muster, dieselben Phrasen, um ihnen Bedeutung zu geben.

MILES DAVIS QUINTET My funny Valentine (23.12.65), CD-Box: "Live at the Plugged Nickel"

NICHOLAS GEBHARDT
Es ist die Wiederholung, die Arbeit mit vertrautem Material, vertrauten Phrasen, das Wiedererkennen - sie formen den Rahmen einer Performance, sie verleihen ihr Bedeutung für die Zuhörer, für den Moment eines Konzertes.
Das Publikum mag zwar Erfahrung mit einem Song besitzen, aber jetzt wird eine andere Aussage benötigt, es geht um die Bedeutung des Stückes genau in diesem Moment.
Am nächsten Abend ist die Aussage des Stückes eine andere.
Und wenn man sich die Wiederholung von „My funny Valentine“ vom nächsten Abend anhört, dann nimmt man filigrane Änderungen wahr in der Art, wie die Band das Stück angeht. Die Pausen sind anders, der Raum klingt anders, Anfang und Ende sind anders.
Die Bedeutung des Stückes wird in diesem Moment erzeugt, wie die Band den Song spielt, wie dies das Publikum wahrnimmt und Teil wird der Konversation.


MODERATION
„My funny Valentine“, das Miles Davis Quintet, am 23. Dezember 1965 im „Plugged Nickel“ in Chicago.
Ein passender Beleg zu der These von Nicholas Gebhardt über die Bedeutung des Augenblicks - und wie diese sich ändern kann - ist das folgende Zitat aus einem Buch von Michelle Mercer über Wayne Shorter:

ZITAT MICHELLE MERCER
(„Footprints. The Life and Work of Wayne Shorter“, ISBN 1-58542-353-X)
Den Musikern gelang es, die alten Songs wie neu erscheinen zu lassen.
Gleichwohl nahmen sie an, die Aufnahme davon sei ein Desaster und nahmen mit Erleichterung die Entscheidung der Schallplattenfirma zur Kenntnis, sie nicht zu veröffentlichen.
Als 9 Jahre später dann doch eine Live at the Plugged Nickel - Fassung in Japan herauskam, hörten sie mit Erstaunen, dass die Musik doch funktionierte - ihr Experiment war Bestandteil des Vokabulars für kleine Jazzgruppen geworden.
Live at the Plugged Nickel hatte einen Standard für die nächste Generation von Jazzmusikern gesetzt.
Später, 1982, als die Platte auch in den USA herausgekommen war, klingelte ein 22jähriger Trompeter namens Wynton Marsalis am Haus von Wayne Shorter, mit einem Exemplar der Platte in der Hand. Wynton bat, still dasitzen und Wayne zu beobachten zu dürfen, während beide gemeinsam diese Musik hörten.

WYNTON MARSALIS Buddy Bolden, CD: Live at Village Vanguard

MODERATION
Und hier ist der vorhin Angesprochene: hier ist Wynton Marsalis, er spielt Buddy Bolden.
Und wir sind damit beim Vortrag von Steven Lewis, Doktorand an der Universität von Virginia, mit dem Titel:
„Wynton Marsalis und der erste Mann des Jazz“.

STEVEN LEWIS
RC-steven-lewisWir haben Informationen über die Karriere von Buddy Bolden aus mündlicher Überlieferung.
In den 30er und 40er Jahren gingen die ersten Jazzforscher nach New Orleans und befragten ältere Jazzmusiker über die Anfänge des Jazz.
Dabei tauchte des öfteren der Name „Buddy Bolden“ auf, so dass sie daraus schlossen, das müsse in wichtiger Musiker gewesen sein.
Dadurch haben sie einiges über ihn in Erfahrung gebracht, auch durch spätere Forschung.
Aber auch heute noch haben wir so gute wie keine Vorstellung davon, wie er wirklich geklungen hat. Er hat aufgehört zu spielen, und zwar vor den ersten Jazzaufnahmen in Amerika.

MODERATION
Wynton Marsalis spielt Buddy Bolden und er setzte dabei - wie Steven Lewis herausgefunden hat - viele modernere Mittel ein.

STEVEN LEWIS
Ich behaupte, das ist ein ahistorischer Ansatz. Weil er Techniken des modernen Musikers verwendet und sie abstrakt auf Boldens Techniken bezieht.
Das sind in der Tat Mittel, die 40 Jahre nach dem Ende der Karriere von Buddy Bolden erst in Gebrauch kamen.
Als moderner Musiker, der improvisiert, kannst ja auch gar nicht anders als die Sprache zu verwenden, die du gelernt hast, und die dich umgibt. Also jemand der in den 1960er Jahren geboren wurde und eben nicht 1870.
Interessant ist Folgendes: so sehr Wynton Marsalis und Lester Bowie sich auch fetzen über die Interpretation der Jazzgeschichte, so sehr haben sie doch auch Gemeinsamkeiten, wie ich herausgefunden habe. Speziell in der Art, wie sie Anregungen aus der Jazzgeschichte für ihre eigene Arbeit nutzen, mag die auch noch so verschieden klingen.
Ja, in der Tat, er macht Dinge, die an Lester Bowie und seine Performances erinnern.

MODERATION
Also noch einmal: Wynton Marsalis spielt ein Stück von Buddy Bolden, und er spielt wie Buddy Bolden, zumindest tut er so. Macht er uns was vor, Steven Lewis?

STEVEN LEWIS
Aus dem Kontext der Live-Aufnahme aus dem Village Vanguard geht hervor, dass er sehr wohl weiss, dass es sich um die moderne Interpretation der legendären Aspekte von Buddy Bolden´s Stil handelt.
Ich würde sagen, es geht ihm nicht darum, Bolden nachzuahmen als vielmehr Bolden aus einer modernen Perspektive aus zu imaginieren
und das, was an dessen Musik wichtig war, auf heutige Improvisationstechniken zu beziehen.

MODERATION
Nun gut, Wynton Marsalis spielt zwar im Stile von Buddy Bolden - aber zugleich macht er klar, dass er das gar nicht kann: weil er nicht weiß, wie Boden wirklich geklungen hat und weil ihm bewusst ist, dass er viel moderneres Material benutzt.
Was ist daran zu kritisieren, Steven Lewis?

STEVEN LEWIS
Wie jedes Stück kann man auch dieses aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachten. In mancherlei Hinsicht, würde ich sagen, gelingt ihm ein fesselndes und bewegendes Bild dessen, was nicht vollständig auf Tatsachen beruht.
Zugleich könnte man Kritik üben daran - und viele Leute werden das vielleicht anmaßend finden, eine Performance von Buddy Bolden verkörpern zu wollen, eine Figur, von der wir nur sehr wenig wissen. Über sein Spiel mit einer solchen Autorität zu reden, das geht manchen Leuten sicher einen Schritt zu weit.

PER ZANUSSI Earwaves, Live recording Stavanger

MODERATION
Die „rhythm changes“-Konferenz fand Anfang September in Amsterdam statt. Zu diesem Zeitpunkt existierte die Musik, die wir hier hören, nur auf Papier, aufgenommen wurde sie erst 4 Wochen später beim „Earwaves“-Festival in Stavanger, Norwegen.
Konzept und Produktion sind Teil einer neueren Form von Doktorarbeit, wie sie langsam auch in Deutschland an Bedeutung gewinnt. Ihre Methode heisst übersetzt: „praxisbezogene Forschung“.
Darunter muss man sich Künstler vorstellen, die ein neues Projekt entwerfen, und es nicht nur praktisch umsetzen, sondern auch wissenschaftlich begleiten müssen.
Der Künstler, der dies hier tut, ist bei uns nicht ganz unbekannt, spätestens nicht seit einem fulminanten Auftritt beim Jazzfestival Münster, 2011 - der Bassist Per Zanussi aus Norwegen.
Seine Disseration - deren klingenden Teil wir hier verfolgen - trägt den Titel „composing for improvisers“  ein wenig paradox, nicht wahr Per Zanussi?

PER ZANUSSI
RC-zanussiJa, das klingt schon ein wenig paradox.
Ich versuche, Wege zu finden, um eine Musik zu schreiben, die auch der Improvisierten Musik aufhelfen kann.
Z.B. in ihrem Verhältnis zur Identität der Komposition; wieviel muss ich überhaupt notieren?; was schreibe ich für die unterschiedlichen Musiker?; wie kann ich sicherstellen, dass die Improvisierenden nicht den Eindruck haben, einfach nur meine Musik zu spielen? usw.



Ich möchte die Improvisierenden in die Lage versetzen, meine Kompositionen zu beeinflussen, ohne deren Grundpfeiler zu beseitigen.
Sie sollen aber andererseits genügend Freiheit haben, ihre Persönlichkeit einzubringen - was oft für mich interessanter ist, als meine Musik korrekt interpretiert zu kriegen.

MODERATION
Klingt das nicht sehr allgemein?
Könnte das nicht ein jeder Jazzmusiker sagen: die Mitspieler sollten genügend Freiheit haben, ihre Persönlichkeit einzubringen?

PER ZANUSSI
Stimmt. Aber damit ist ja nur ein Teil des Projektes angesprochen.
Der Anteil der Kompostion ist wichtig, denn darin kommt meine Inspiration durch die Musik Asiens zum Ausdruck.
Hier verarbeite ich insbesondere meine Inspiration durch die koreanische Musik.
Was ich eingangs beschrieben habe, ist das Hauptziel des ganzen Projektes. Was es von anderen meiner Arbeiten unterscheidet, ist die Art, wie ich meine Inspirationen einbeziehe, um damit letztlich eine persönliche Aussage zu formulieren.

MODERATION 24
„Earwaves“-Festival Stavanger, 4. Oktober 2014:
ein 11-köpfiges Ensemble spielt eine große Komposition des Bassisten Per Zanussi, sie ist Teil von dessen Doktorarbeit „Komponieren für Improvisierende“ und strukturell sehr von der koreanischen Musik beeinflusst.

PER ZANUSSI
Auch das ist eines meiner Ziele: ich möchte auf keinen Welt Weltmusik oder Exotische Musik produzieren.
Ich will meine eigenen Eindrücke verarbeiten, ich möchte gar nicht, dass man heraushört: ah, das kommt aus der koreanischen Musik.
Mir geht es z.B. um die Struktur der koreanischen Musik, mich interessiert die Stille darin, bestimmte Formen von Ornamenten usw.
Die Langsamkeit dieser Musik spricht mich an, ihr Rhythmus ist oft an das Atmen gekoppelt - im Gegensatz zu Europa, wo er sich mehr am Herzschlag orientiert.
Ich mag die Art, wie die Musik von sehr langsam auf sehr schnell geht, ihre Klangfarben können gleichzeitig sehr rauh und sehr schön sein.
Um es noch etwas konkreter zu machen: es gibt einen Komponisten namens Isang Yun, der lange Jahre in Berlin gelebt hat; er spricht von den „Haupttönen“ oder den „Hauptklängen“ in der koreanischen Musik, zu denen sie - wie unter Schwerkraft - immer wieder zurückkehrt.
Das kann man leicht heraushören.
Und diese Idee greife ich auf verschiedene Art und Weise auf. Es gibt z.B. ein Stück in Modulen, inspiriert von einer offenen Form, darin vollzieht sich die ganze Zeit eine Kreisbewegung, immer wieder in zu dem Hauptton. Zwischen diesen Modulen immer wieder Improvisation.
Ein anderes Stück ist mehr von der Spektralmusik inspiriert, der Hauptton ist hier eine tiefe Note auf dem Bass, mit all ihren Obertönen, die dann von den anderen Instrumenten aufgegriffen werden...
ist nicht ganz einfach zu beschreiben.

MODERATION
„rhythm changes“ Amsterdam, die größte Jazzkonferenz nicht nur in dieser Reihe.
Als nächstes ist wieder Salford in England dran, im Frühjahr 2016.
Das sind Wissenschaftler-Treffen, was aber hat - sozusagen - der gemeine Jazzhörer davon?
Walter van de Leur, Universität Amsterdam.

WALTER VAN DE LEUR
Die Konferenz ist in der Tat der Ort, wo wir als Wissenschaftler zusammen kommen.
Unter dem Titel „rhythm changes“ haben wir aber auch etliche Projekte bei Jazzfestivals durchgeführt, wo wir mit dem Publikum sprechen. Dort haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Besucher entzückt und überrascht auf unser Angebot reagieren.
Wir hatten einen sehr interessanten Austausch mit Jazz-Publika,aber auch mit Nicht-Jazz-Publika.
Wir haben beispielsweise beim Rotterdam Film Festival Filme kommentiert. Wir haben mit den Besuchern über das gesprochen, was sie gerade gesehen hatten und wie unsere Einschätzung dazu lautet.
Und das war sehr fruchtbar.

MODERATION
Das war WDR 3 Jazz: „Jazz Beyond Borders“, ein Bericht über eine Konferenz in Amsterdam, nämlich die dritte in der Reihe „rhythm changes“.
Die Redaktion der Sendung hatte Bernd Hoffmann,
am Mikrofon verabschiedet sich Michael Rüsenberg.


 ©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten.