Improvisation, eine Qualität des Lebens (1)

Von Keith Jarrett bis Angela Merkel

1. Köln Concert -

die größte Legende der Jazz-Improvisation

SWR 2, 09.02.2017

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…mit Michael Rüsenberg.
Heute beginnt an dieser Stelle eine fünfteilige Reihe, die ein Phänomen, das viele ausschließlich mit dem Jazz verbinden, auch in ganzen anderen
Bereichen nachzuweisen sucht:
„Improvisation, eine Qualität des Lebens; von Keith Jarrett bis Angela Merkel“.
Die erste Folge setzt da an, wo die meisten das Phänomen sicher verortet wissen:
„ Köln Concert - die größte Legende der Jazz-Improvisation"

KEITH JARRETT Part I, 0:57
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conver koeln concert24. Januar 1975, kurz nach 23 Uhr, Opernhaus Köln:
Keith Jarrett beginnt zu spielen. Das Konzert wird aufgezeichnet, der Mitschnitt geht später als „Köln Concert“ in den Handel, mit rund 4 Mio Exemplaren bis heute die meistverkaufte Jazz-Solo und Klaviersolo-Platte überhaupt.
Alle wissen: Keith Jarrett hat die gesamte Musik, rund eine Stunde lang, improvisiert.
Improvisation: das Wort lässt sich über das Italienische aufs Lateinische zurückführen.
Es bedeutet im Kern: „unvorhergesehen“.

 

KEITH JARRETT Part I, 2:04
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PETER ELSDON
Peter Elsdon 2„Improvisation“ kann eine sehr attraktive Idee für den Hörer sein.
Das ist z.B. einer der Gründe, warum ich mich für Keith Jarrett interessiere.
Ich habe mich Jarrett zugewandt, weil ich fasziniert war von der Idee: da ist jemand direkt vor mir, der sozusagen vor meinen Augen improvisiert. Und ich höre der Musik zu in dem Moment, wo sie entsteht.
Ich denke, einige Musiker betonen den Faktor „Improvisation“ auch deshalb, damit wir ihre Musik dann auf eine ganz bestimmte Art und Weise hören.
Und sie auch anders bewerten - nämlich im Gegensatz zu der nicht-improvisierten Musik.

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Das ist Peter Elsdon, Musikwissenschaftler aus dem nord-englischen Hull.
Er hat ein bemerkenswertes Buch über das „Köln Concert“ geschrieben.
Und darin stellt er vorsichtig in Frage, ob denn die Improvisationen von Keith Jarrett seinerzeit wirklich „unvorhergesehen“ geschehen, ob - wie Jarrett immer wieder betont - er „nackt auf die Bühne“ getreten sei.
Denn genau dieser Eindruck ist vorherrschend in der Jazz-Publizistik:
dass ein Jazzmusiker wie Jarrett im Moment des Spielens, vollkommen aus dem Nichts heraus schöpfe.
Der Keith Jarrett-Biograph Wolfgang Sandner z.B. attestiert ihm ein:

ZITAT
„musikalisches Gedächtnis ohne Erinnerung“

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und ein Schweizer Jazzautor zitiert Jarrett selbst, Improvisieren bedeute für ihn:

ZITAT
„im Kopf ein Vakuum herstellen, einen leeren weißen Raum, in welchem sich das Unvorhersehbare einstellen kann.

REINHARD KOPIEZ
Falsch. Das ist ein Stück Mythologisierung der Jazzmusik auch.

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Reinhard Kopiez, Musikpsychologe aus Hannover.

REINHARD KOPIEZ
Wir wissen, dass die Jazzmusiker genauso viele Stunden geübt haben wie klassische Musiker. Aber der Mythos des scheinbar Spontanen, Voraussetzungslosen, der wird natürlich auch gepflegt und gehegt, weil er ein Teil des Nimbus der Jazzmusik ist. Ich finde das ok, aber muss es auch mal de-konstruieren.

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Kopiez zieht von einem amerikanischen Kollegen einen Vergleich heran.

REINHARD KOPIEZ
Kopiez Bonn 2 KopieDavid Huron hat ja das schöne Wort geprägt „Stricken kann man nur mit Wolle“ - aber die muss ich erst mal erzeugen. Das sind die Stunden im Übekämmerlein. Und die Hausnummer, die gilt, heisst: ich brauche ungefähr 10.000 Stunden von Expertisierungsprozessen; dazu gehört ein fundiertes Wissen in Musiktheorie, dazu gehört Repertoirekunde, ich muss die Titel des Realbook wenigstens auf Abruf drauf haben, in mehreren Tonarten. Da führt ja gar kein Weg dran vorbei. Also dieses quasi Voraussetzungslose ist eben ein Teil der Selbst-Mythologisierung einer ganzen musikalischen Gattung. Ist ok, aber muss man auch mal hinterfragen.

KEITH JARRETT Part I, 6:39
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Keith Jarrett, „Köln Concert“; auch das ist ein Ausschnitt aus dem ersten Teil des Live-Mitschnittes aus der Kölner Oper, Januar 1975.
Dass Jarrett hier voraussetzungslos spiele - wie er selbst, aber auch weite Teile der Jazzpublizistik glauben machen -, der Musikpsychologe Reinhard Kopiez hat dies dies vorhin als „Selbst-Mythologisierung“ des Jazz bezeichnet.
Einen ähnlichen Gedanken findet man im neuen Standardwerk der Gattung, dem Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies, von Davide Sparti, einem Musikphilosophen aus Italien:

Zitat DAVIDE SPARTI
Das Wort „solo“ verführt zu der trügerischen Vorstellung, eine Handlung geschähe vollständig autonom.
Wenn ein Solo wie der äußere Ausdruck einer inneren Inspiration erscheint, dann nur deshalb, weil wir beeinflußt, ja fehlgeleitet sind durch die religiöse Vorstellung eines absoluten Anfanges.
Tatsächlich ist ein Solo niemals ein isoliertes Ereignis, es ruft frühere Soli in Erinnerung, als neuer Ausgangspunkt, und ist deshalb ganz notwendigerweise „reflexiv“.

KEITH JARRETT Part I, 5:30
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SRW2 „Improvisation, eine Qualität des Lebens, von Keith Jarrett bis Angela Merkel“, heute die erste Folge: „Köln Concert - die größte Legende der Jazz-Improvisation“.
Improvisation mag im Jazz seine besondere Ausprägung erfahren.
Improvisiert wird und wurde in vielen Musikkulturen der Welt, unsere abendländische „Klassik“ mit ihrer Verschriftlichung, mit ihrer Trennung in Komponisten und Interpreten, gehört zu den Ausnahmen in der Welthistorie der Musik.
Obwohl, einige ihrer größten Exponenten - Bach, Beethoven, Mozart und Liszt - haben auch improvisiert, allerdings gewissermaßen als Vorstufe ihrer dann als Notentext ausgegebenen Werke.
„Improvisation“ (also das, was spontan geschieht), und Komposition (das, was notiert ist), sind allerdings keine Gegenpole; manche Studien zeigen: sie sind im Moment des Hörens häufig nicht zu unterscheiden.
Der amerikanische Musik-Ethnologe Bruno Nettl spricht deshalb 1974 von einem „Kontinuum“ zwischen beiden, einem fließenden Verlauf.
Der Musikpsychologe Reinhard Kopiez greift dieses Argument auf:

REINHARD KOPIEZ
Improvisation ist ein graduelles Moment, nicht ein kategorisches, das sich unterscheidet von anderen Verhaltensweisen. Nur, der Anteil in den verschiedenen Musikformenen ist unterschiedlich hoch. Und der ist eben im Jazz erheblich höher als in der Klassischen Musik. Aber dieses Modell des Kontinuums erklärt, glaube ich, viel mehr als das der kategorischen Aufteilung von entweder/oder. Es gibt immer beide Komponenten - nur die Gewichtung ist anders.

KEITH JARRETT Part I, 4:34
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MODERATION
Improvisation, soviel können wir feststellen, ereignet sich zwar spontan, aber nicht voraussetzungslos; sie ist - wie wir eben gehört haben - „reflexiv“, bezieht sich also auf früher Gespieltes.
Aber was ist das? Aus welchen Quellen schöpft jemand, der - wie Keith Jarrett - aus dem Stegreif Musik erfindet? Bei jedem Konzert anders?

ANNEROSE ENGEL
Improvisation ist eine motorische Handlung. Und dieses Improvisieren kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern oft geht ein jahrelanges Trainieren, jahrelanges Üben voran, wo man motorische pattern überlernt, auch musikalische Phrasen.
Und dann in diesem Moment des Improvisierens kombiniert man die neu.

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Annerose Engel, Max Planck-Institut, Leipzig.
Ihre Erklärung von Improvisation stammt aus der neuro-wissenschaftlichen Musikforschung, insbesondere an Pianisten.
Sie betont die Motorik, d.h. die Bewegungsabläufe, mit denen Musiker Töne hervorbringen - Abläufe, die Musiker „überlernt“, mit anderen Worten so verinnerlicht haben, wie z.B. Autofahrer die Handgriffe bei der Gangschaltung.

ANNEROSE ENGEL
In dem Moment, wo man auf ein grosses Repertoire zurückgreifen kann, und dann in diesem Moment, wo man spielt und sozusagen neu kombiniert, da nicht mehr alle Aufmerksamkeit darauf lenken muss, sondern einfach das in dem Fluß gehen lassen kann. Dann können solche Neu-Kombinationen besser passieren.
Aber das heißt nicht, dass eben nicht viele Momente vor so einem besonderen Moment des Spielens, viele Moment des harten Arbeitens eigentlich stattfinden.

MODERATION
Improvisation als motorische Handlung - diese Definition von Annerose Engel hat überraschenderweise Gültigkeit über den Bereich der Musik hinaus.
Es steckt etwas Grundsätzlich darin. Wir werden in dieser Reihe noch hören: auch Praktiker und Theoretiker aus nicht-musikalischen Bereichen können mit dieser Beschreibung etwas anfangen.

KEITH JARRETT Part I, 6:14 (Rest von Part I)
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Keith Jarrett, das war der Schluss des ersten Teiles von „The Köln Concert“,
seiner mit großem Abstand populärsten Veröffentlichung, von der er sich später distanziert hat, und zwar so sehr, dass er 1992 in einem „Spiegel“-Interview sagt, man solle alle Exemplare davon „einstampfen“.
Ich will auf diese groteske Forderung nicht weiter eingehen, sondern etwas anderes daraus herauslesen, nämlich: dass Improvisation im Jazz nicht durchgängig positive Resultate hat, sondern offensichtlich auch unerwünschte.
Jarrett hat Jahre danach zu Protokoll gegeben, dass die Musik des „Köln Concert“ viel zu viele Wiederholungen habe.
Wie aber ist es möglich, dass ein Musiker in einer Improvisation Dinge spielt, die ihm sogleich oder später nicht gefallen?
Der Musikwissenschaftler Martin Norgaard hat sich eingehend mit dieser Frage befasst. Norgaard ist „von Hause aus“ Violinist, er stammt aus Dänemark, lehrt seit vielen Jahren an der Georgia State University in Atlanta und zählt in Amerika zu den renommierten Improvisationsforschern.
Für seine Doktorarbeit hat er Jazzmusiker improvisieren lassen und sie sofort danach dazu befragt. Unter anderen den bekannten Bassisten Rufus Reid, der einräumte, mit einigen seiner in der Improvisation geäußerten musikalischen Ideen überhaupt nicht zufrieden zu sein:


MARTIN NORGAARD
norgaardHier haben wir den Fall eines sehr, sehr erfahrenen Jazz-Improvisators, der keine vollständige Macht über seine Entscheidungen zu besitzen scheint.
Was sagt uns das?
Der Mechanismus, der solche Bewegungsabläufe hervorruft, ist ganz offenkundig schneller als unsere bewußte Kontrolle darüber. Jazzmusiker können sich also selbst überraschen, indem sie etwas spielen, das ihnen gefällt oder auch nicht gefällt.
Das ist ja das Schöne daran: dass man sozusagen beobachten kann, wie sich die eigenen Hände bewegen, wie sie etwas Positives finden, mit dem man weiter arbeiten kann.
Der Wissenschaftler Aaron Berkowitz nennt das in seinem Buch das „Schöpfer-Zeugen-Phänomen“: man wird Zeuge seiner eigenen, sozusagen automatischen Hervorbringungen.

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Viele Jazzmusiker - auch Keith Jarrett - haben für diesen Zustand, auch flow genannt, eine Beschreibung gefunden, die einleuchtend klingt, auch wenn sie physiologisch falsch ist:

Zitat KEITH JARRETT
Meine Hände wissen mehr als das Hirn.

KEITH JARRETT Part IIb, 6:18
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Der improvisierende Jazzmusiker - das wissen wir aus den Neurowissenschaften, das drücken auch die Musiker selbst in ihren Worten ähnlich aus - der improvisierende Jazzmusiker startet im Moment der Improvisation nicht bei Null, sondern er stützt sich auf das, was er schon einmal gespielt hat.
Das Stichwort lautet „überlernt“.
Dieses Stichwort taucht auch bei Klaus Frieler auf. Es gibt hierzulande kaum jemanden, der so viel weiß über das, was in einer Improvisation wirklich gespielt wird, wie dieser Musikwissenschaftler und Physiker.
Frieler betreut die Weimar Jazz Database. Darin sind 400 Jazzsoli gespeichert, die mit dem Computer detailliert analysiert werden können wie nie zuvor. 


KLAUS FRIELER

Man kann eigentlich nichts spielen, was man nicht schon gespielt hat.
Man hat eigentlich alles irgendwie schon mal gespielt. Die Frage ist eigentlich nur die der Granularirät.
Ich habe jeden Ton schon mal gespielt, also kann ich von jedem Ton zu jedem anderen Ton gehen. Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich, weil man eher Tongruppen wahrnimmt und produziert. Vier, fünf Töne, das ist was sich jetzt so nach unserer Pattern-Untersuchung herauskristallisiert - die setzt man zusammen.
Bleibt aber immer noch die Frage, wie man von pattern A zu pattern B kommt.
Ich habe eigentlich nur das Problem vom Ton auf ein pattern verschoben, auf Tongruppen.
Aber es ist immer noch die Frage: warum diese Tongruppe und nicht eine andere? Das Pattern-Repertoire kann so groß sein, dass man das in fünf Soli von einem Solisten gar nicht zu Gesicht bekommt. Und dann ist die Frage: was ist eigentlich mit der Skala? Jeder hat Tonleitern geübt, auch die Jazzer - ist das ein pattern?
Und die relativ hohe Anzahl von Tonleitern, die wirklich 1:1 vorkommen, deutet auch darauf hin: das ist auf jeden Fall überlernt, dass das auch mal gespielt wird.

MODERATION
Damit wir uns nicht missverstehen: bei dem „Ideenflussmodell“, das Klaus Frieler und andere in Weimar anhand des bisher größten Fundus an Jazzsoli entwickeln, geht es nicht darum, den Erfindungsreichtum von Jazzmusikern zu schmälern. Sie wollen diesen Reichtum aufschlüsseln.
Aus ihren Analysen spricht denn auch häufig Staunen, ja Verwunderung über die Komplexität, über die Vielfalt der Ideen, die Jazzmusikern spontan hervorbringen - noch dazu in irrsinnigen Tempi.
Nur, dass Jazzmusikern dies alles unvorbereitet gelänge, dass sie quasi „nackt“ vor ihr Publikum träten - dafür haben die Weimarer sichere Gegenargumente:


KLAUS FRIELER

Frieler Wuppertal 1 1 KopieDas geht nicht, man bringt ja seine Geschichte immer mit; es ist fast unmöglich, die Geschichte abzustreifen. Will man ja auch gar nicht. Wenn man ganz davon weggeht - kann man auch nicht mehr kommunizieren.
Und selbst die, die davon weggegangen sind, haben ja auch eine Sprache entwickelt. Selbst die freesten Free-Leute haben ja auch eine geheime Free-Sprache.  Wenn die auch ex negativo ist, und beispielsweise darin besteht, keine Tonfolgen zu spielen. Das wird ja explizit vermieden, die sind ja nicht wirklich free. Wenn die free wären, dann würden die zwischendurch auch mal ein Kinderlied spielen oder mal ein altes pattern abdrücken.
Deswegen bin ich ja persönlich ein Fan von Pharoah Sanders, weil die Spiritual-Jazz-Platten von ihm: da hast du genau diese Mischung! Der spielt schönsten, reinsten Gospel, klassischen Jazz. und dann kommt der Free-Ausbruch. Das ist genau die Mischung, die ich verstehe unter „free“, weil alles geht. Es geht nicht nur Ausbruch, Expressivität. Hat auch seine Qualitäten. Aber ich persönlich finde diesen Mix sehr interessant.


KEITH JARRETT Part IIb, ca 7:09

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SWR2 NOW JAZZ: „Improvisation, eine Qualität des Lebens - von Keith Jarrett bis Angela Merkel. Teil 1. Köln Concert - die größte Legende der Jazz-Improvisation“.
Keith Jarrett und das Köln Concert stehen hier stellvertretend für den großen Bereich „Jazzimprovisation“.
Der Untertitel dieser Reihe aber zeigt an: sie geht weit über den Bereich hinaus, aus dem die meisten Hörer mit Improvisation vertraut sind, nämlich Jazz. Sie fragt in den kommenden Folgen auch nach dem Vorhandensein von Improvisation in der Politik.
Zum Abschluss des ersten Teiles möchte ich aus den zahllosen Musikgattungen der Welt, in denen auch improvisiert wird, eine herausgreifen: die klassische indische Musik, die Raga-Musik.
Improvisation hat dort eine ganz andere Bedeutung als bei uns im Westen.

RONALD KURT
Bei uns hat sie dieses traditionell schlechte Image, das sich jetzt bessert auch gerade durch den Jazz, in anderen Kulturen steht sie ranghöher und hat ganz andere Vorzeichen, unter denen sie gesehen wird.
In Gesellschaften, die nicht dieses euphorische Freiheitsdenken haben wie wir: „Das Ich befreit sich durch Kreativität und Improvisation“ usw., da gibt es dann eher Vorstellungen vom Leben, in dem es klare Regeln gibt, aus denen man auch nicht ausbricht, aber in denen man sich improvisatorisch ganz gut bewegen kann.
Das ist der Vergleich zwischen der klassischen indischen und der klassischen europäischen Musik,

MODERATION
Das ist Ronald Kurt, ein Soziologe von der Evangelischen Hochschule in Bochum. Er hat 2008 einen Band herausgegeben unter dem Thema „Menschliches Handeln als Impovisation“.
Darin zeigt er sich auch als Kenner der klassischen Indischen Musik.

RONALD KURT
Ronald Kurt klein 1Die Inder, die klassische indische Musik, also einen Raga spielen, improvisieren in einem festgelegten Rahmen, sie überschreiten den nicht, sondern bewegen sich in ihm.
Und sie bringen auch im Grunde nicht etwas Neues, sondern sie bringen aus der Vielzahl der Möglichkeiten, die sie gelernt haben, eine besondere Kombination heraus.

So kommt der Raga ins Fließen, und so lebt der.

Bei uns ist eher der Ansatz:
Ich brauche die Improvisation, um mein Ich auszudrücken, um mich zu befreien, um wegzukommen von dem, was ich schon kenne und kann (würde ich auch unterschreiben, für mich persönlich). Aber das sind eben unterschiedliche kulturelle Wertorientierungen, die dann auch zeigen, dass derselbe Begriff in unterschiedlichen Kulturen auch Unterschiedliches bezeichnet.

MODERATION
Wenn Ronald Kurt gleich von „dem Abendländer“ spricht, dann hat er ganz allgemein den westlichen, improvisierenden Musiker vor Ohren, dazu gehört auch der amerikanische Jazzmusiker.
Mit einem weiteren Statement von ihm und mit indischer Ragamusik schließt diese erste Folge der Reihe:
„Improvisation, eine Qualität des Lebens - von Keith Jarrett bis Angela Merkel, heute: Köln Concert - die größte Legende der Jazz-Improvisation“.

Den zweiten Teil - Improvisation im Film, u.a. mit Alexander Kluge - hören Sie am Donnerstag, 16. März, um 23.03 Uhr, hier in SWR2 Now Jazz.
Am Mikrofon verabschiedet sich Michael Rüsenberg.

RONALD KURT
Ja, der Abendländer ist traditionell ego-zentriert. Und er muss sich von anderen abgrenzen. Und da kann er sich im Solo, durch eine gelungene Improvisation sehr gut abgrenzen. Nun ist die indische Ragamusik im Grunde auch eine Solo-Musik, aber der Musiker versucht sich nicht abzugrenzen von irgendwas oder sich als Ich herauszustellen, sondern er fließt so mit dem Raga dahin, und sein Ich würde er gar nicht als relevant bezeichnen.

MADHUP MUDAL ENSEMBLE Raga Chaianat (trad, WDR-Aufnahme)
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 © Michael Rüsenberg, 2017
Alle Rechte vorbehalten

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