"Jazz ist stets politisch"

Stimmt der Satz von Mark Turner?

Und wenn ja: wie müsste dieser Jazz klingen? *

„Jazz ist stets politisch“.
Es lag eine Schrecksekunde zwischen der Lektüre dieses Satzes und der Zurkenntnisnahme des Autors.
Die Schrecksekunde war lang genug, um in eine Falle zu tappen, vor der ich andere gerne warne - nun saß ich, in der Eile der ersten Assoziation, selber drin: in dem Irrtum, ästhetischen Dissens mit politischem Dissens gleichzusetzen; die Abweichung in der Kunst mit einer politischen Haltung, vielleicht gar politischem Protest zu verwechseln.

„Jazz ist stets politisch“.

Als allererstes vermutete ich: dahinter muss einer der „Brotzmänner" stecken, die benötigen für gewöhnlich - gerne befördert durch die gemeine Jazzpublizistik - kaum mehr als einen Augen-aufschlag, um ihr Dissidententum zu artikulieren.
Und wer so tut, als wolle er musikalisch nicht allen gefallen, warum soll der nicht sonst - jenseits der Bühne, jenseits der Klangerzeugung - auch politisch abweichen?
Aber, welchen Namen lese ich, zu meiner großen Überraschung, als Autor? 
Nicht Brötzmann, nicht Schlippenbach, keinen ihrer US-Verbündeten. Ich lese: Mark Turner, „an ECM recording artist“, ein Tenorist des schönen Tones, ein sanfter obendrein. Ihn hätte ich nie und nimmer mit einer solchen Aussage in Verbindung gebracht. Und er äußert sich nicht in einem der Jazzmagazine - Entschuldigung -, wo der Reflexionsgrad selten in die Höhe strebt, sondern in der seriösen NZZ Am Sonntag (20.11.16)
Pardon, sie hat von mir diesen credit. Vor den Jazzmagazinen.

„Jazz ist stets politisch“.

Was könnte Mark Turner damit gemeint haben? 
Zunächst, der Satz enthält eine adverbiale Bestimmung der Zeit: „stets“. Ich habe den Satz schon des öfteren gehört, im Grunde kenne ich ihn seit Jahrzehnten, in vielen Varianten. So zugespitzt, so terminiert aber habe ich ihn noch nie vernommen. Turner sagt nicht, Jazz ist dann politisch, wenn er spielt oder wenn Peter Brötzmann spielt oder William Parker oder irgendeiner vom Visions-Festival in New York-, oder in der Historie Charlie Haden. 
Nein, Jazz ist demnach „stets politisch“: wenn Turner spielt, wenn Brötzmann spielt, Brad Mehldau, Miles Davis, Pat Metheny, Till Brönner - wer auch immer. 
Wenn er klingt - dann ist er politisch. Der Jazz. Ohne jede weitere Voraussetzung.
Ohne Ausnahme.
Allerspätestens seit Karl Popper´s Diktum („Alle Schwäne sind weiss - bis sich ein schwarzer findet“) sind solche All-Aussagen in der Philosophie und in der Wissenschaft verpönt - man macht sich lächerlich damit.
Zweiter Einwand: dieser Satz „Jazz ist stets politisch“ widerspricht der Alltagserfahrung; laut Popper, den ich hier zum letzten Male aufrufe, durchaus ein taugliches Erkenntnisinstrument.
Aber, wer hat gestern, vorgestern, am Mittwoch hier im Kammgarn, im Stadttheater, von der Bühne herunter in Tönen & Klängen etwas im Turner´schen Sinne wahrgenommen?
Wir haben Jazz gehört, in etlichen Varianten, aber welche darunter war von einer Art, die uns auf der Stelle oder auch später antönte: „Hallo, ich bin politisch“?
Meines Erachtens handelt es sich hier um eine Kategorienverwechslung.
Für diese Beurteilung, für diesen Begriff kann ich einen prominenten Zeugen aufrufen: den auch in der Improvisation nicht ganz fremden britischen Komponisten Gavin Bryars.
Der hatte Ende der 60er Jahre abgelehnt, dem Scratch Orchestra von Cornelius Cardew beizutreten, das war super-hip damals, flirtete mit dem Maoismus und war auch deshalb in manchen Kreisen der europäische Linken gern gesehen. Bryars´ Argument war folgendes:

„Ich war der Auffassung, dass die Kombination von Politik und künstlerischer Aktivität genau das ist, was man in der Philosophie einen `Kategorienfehler´ nennt. Die Leistungskriterien sind je-weils unterschiedlich; Kriterien aus der einen auf die andere anzuwenden, erschien mir deshalb unsachgemäß.“ 

(Bryars, das sei hingefügt, wusste, wovon er sprach; er hatte von 1961-64 in Sheffield Philosophie studiert und dabei sicherlich auch den „Erfinder“ der Kategorieverwechslung, Gilbert Ryle, gehört - einen der profiliertesten Philosophen Großbritanniens.
Mark Turner aber tut genau das, was Gavin Bryars verwirft: er schreibt einem Phänomen eine Eigenschaft zu, die ihm nicht „von Hause aus“ eignet. Er lädt ein ästhetisches Phänomen, hier Jazz, mit einer Eigenschaft außerhalb der Welt des Ästhetischen auf, nämlich „politisch“ zu sein.
Ich möchte aber nicht ungerecht sein und auch Mark Turner philosophischen Flankenschutz gewähren, auch einen prominenten, in Person der amerikanischen Musikphilosophin Lydia Goehr. Sie schreibt:

„Musik ist politisch schon allein durch die Tatsache, dass sie eine Praxis des menschlichen Ausdrucks oder einer Performance darstellt, die sich in die Welt hineinarbeitet, in bestimmten Gemeinschaften/communities“.

(Ich stimme damit nicht überein. Aber es handelt sich hier um ein trickreiches Doppelargument, das in der Jazzszene - für die es vermutlich gar nicht gedacht ist - gut tönt. Ich werde darauf zurückkommen.)
Unterstellt für den Moment: selbst wenn es so wäre, wenn also Jazzmusik als „politisch“ wahrgenommen werden könnte und würde - welche Erkenntnis wäre damit verbunden?
Zunächst mal doch nur die, dass der Jazz damit lediglich das Eintrittsticket für diesen Sektor erworben hätte, er würde hinfort nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch wahrgenommen - aber was kommt dann? Wissen wir doch, dass in dieser Welt, in der Welt des Politischen, viele Positionen denkbar sind, inzwischen weit über die alte Sitzordnung im Reichstag, von links bis rechts, hinaus.
In der Welt des Politischen braucht´s einen Ort, ein Programm.
Der Satz, „Jazz ist stets politisch“, käme in der Welt des Politischen einer Nullaussage gleich.
Man wüsste nicht: wofür steht er? Was will er? Wollen alle, die in seinem Namen auftreten, das Gleiche? 
Vor allem: wer sind seine Gegner? Gegen wen will/muss er sich durchsetzen?
Aktueller Seitensprung. Kennen Sie Matthias Moosdorf?
Er ist Cellist im Leipziger Streichquartett.
Moosdorf ist „politisch engagiert“.  Was wir von Mark Turner nicht wissen. 
Und ich verwende diesen Begriff bewusst. Nämlich in dem Sinne: Moosdorf tut etwas über seine reine Berufsausübung als Cellist hinaus, er tut etwas Politisches. Und er kriegt richtig Senge dafür.
Er hat eine facebook-Seite, die laut FAS keinerlei Hinweis auf sein Künstlertum enthält, sondern ausschließlich politische Beiträge.
Matthias Moosdorf ist Mitglied der rechtspopulistischen Afd, Alternative für Deutschland, ja er war sogar 3 Monate lang Berater von Frauke Petry. Und hat sich von ihr keineswegs aus politi-schen, sondern aus persönlichen Gründen losgesagt.
Die Resonanz in „unseren Kreisen“, auch in diesem Raum in Schaffhausen, ist in ihrer Richtung vorhersehbar. Abgesehen von ein paar ganz Hartgesottenen, denen ein „typisch Klassik“ entfährt, wird die Mehrheit Moosdorf richten als „ein Arschloch“.
Denn aus Gründen, die noch nachzuzeichnen sind, ist unsere kleine Welt, die Jazzwelt, mehrheitlich links von der Mitte positioniert. Und das ist kein Gefühlseindruck, sondern eine mehrfach erhobene empirische Tatsache.
Bedeutsam aber ist - und das möchte ich hervorheben -, dass Moosdorf klar zwischen seinem künstlerischen Beruf und seiner politischen Überzeugung trennt (wenn auch mit Resultaten, die wir für falsch halten. Aber darauf kommt es hier, für den Moment, nicht an.) 
Moosdorf immerhin bildet keine logische Verknüpfung zwischen seiner Tätigkeit als Cellist und seinen politischen Überzeugungen.
Genau das aber tut Mark Turner.
Das vollständige Zitat aus der NZZAS nämlich lautet:

„Jazz ist stets politisch. Er bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sozialen Kontext. Allein schon der Entscheid, als Jazzmusiker zu leben, ist ein politisches Statement. Denn man entscheidet sich damit für Freiheit, für Emanzipation und gegen den Primat des materiellen Erfolgs.“

Den ersten Satz kennen wir. Der zweite Satz „kein luftleerer Raum, sozialer Kontext“ ist soziologisch eine Binse, stünde aber im Einklang mit Lydia Goehr, mit ihrem Satz von den communities.
Ein jedes Hören ist durch einen Hörenden gekennzeichnet, und der oder die hat eine soziale Position, besonders gut identifizierbar im Konzert.
Entscheidend, ja entlarvend, sind Turners beiden Folgesätze:

„Allein schon der Entscheid, als Jazzmusiker zu leben, ist ein politisches Statement. Denn man entscheidet sich damit für Freiheit, für Emanzipation und gegen den Primat des materiellen Erfolgs.“

Der Romantizismus, ja der m.E. völlig a-politische Charakter unseres Gewerbes kommen hier brutalst-möglich zum Ausdruck. Der Jazzmusiker entscheidet sich nicht bloß dafür, Töne in einer bestimmten Form zu ordnen, sondern nimmt - ohne weiteres Zutun - dafür  Bilderbuch-Eigenschaften in Anspruch,  wie „Freiheit“ und „Emanzipation“. 
Das nenne ich eine professionelle Komfortzone. Die reine Berufsausübung promoviert sich zu einem höheren Zweck.
Beim dritten Ziel, dem einzigen mit dem Vorzeichen „kontra“ - der Absage an den Primat des materiellen Erfolges - wird man ihm eine Zustimmung nicht verweigern können. Es ist ein unfreiwilliges Ziel, aber es hat einen überprüfbaren Kern, wie nicht nur eine deutsche Studie 2016 ausgewiesen hat (ja, ich meine die mit dem Durchschnittseinkommen deutscher Jazzmusiker von monatlich 1.000 Euro). 
Materieller Erfolg drückt sich in anderen Zahlen aus.
Auch die anderen Ziele „Freiheit, Emanzipation“ sind so falsch nicht, als berufsleitend und berufsbegleitend für Jazzmusiker aufgerufen zu werden. Sie bilden nämlich den Grundton, den Orgelpunkt, den drone  unserer kleinen Welt. Wir nehmen ihn gar nicht mehr bewusst war.
Es ist eine spezielle Form von Muzak, die Hintergrundmusik der Jazzpublizistik.
Zwei aktuelle Beispiele:

„Jazz stand immer für Widerstand und Befreiung“ (SZ (22./23.04.2017)

Das Geleitwort zum 6. International Jazz Day der UNESCO vor zwei Wochen lässt sich als Oberton aus dem Grundton erkennen:

„Wie keine andere Musikrichtung steht der Jazz für ein Lebensgefühl, das von der Suche nach Freiheit geprägt ist.“

Und ein drittes - ich kann´s nicht lassen - das saftigste von allen, ein Zitat aus der neuen John Coltrane-Biografie von Peter Kemper.

„Die Beatles, Bob Dylan, Andy Warhol, Muhammad Ali, Martin Luther King, Malcolm X, Marshall McLuhan, die Bürgerrechtsbewegung, die Hippies und die Studentenproteste: all diese Phänomene mit ihren Widersprüchen sollten in Johns Saxophonspiel beispielhaft hörbar werden.“

Ja, die Leistungskraft des Jazz, des Motors „unserer kleinen Welt“, wie ich sie gerne nenne, genauer: bestimmter Repräsentanten daraus, sie scheint sagenhaft zu sein.
Zwar ist die Wahl des Prädikatmodus´ „sollten“ in diesem Satz äußerst wackelig, dafür der Assoziationsraum umso klarer: „politisch“.
Bleiben wir noch einen Moment - wie von Mark Turner angetippt - bei der Minimal-Ökonomie der Jazzmusiker, der bekanntlich nicht nur die deutschen Berufspraktiker unterliegen. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt wie die deutsche wurde nämlich auch eine Studie über englische Jazzmusiker veröffentlicht, von kleinerem Umfang, aber mit durchaus ähnlichen Zahlen - und leider kaum beachtet.
Die englischen Forscher aber haben Erklärungen gefunden, die in der deutschen Debatte überhaupt nicht auftauchen, gleichwohl aber auch dort Gültigkeit haben. Und darüber hinaus.
Die Schwierigkeit, Jazzmusiker-Interessen zu koordinieren (Stichwort „Gewerkschaft“), erklären sie mit der großen Heterogenität der Vertragspartner von Jazzmusikern: Clubs, Festivals, Konzertveranstalter, Privatleute.
Frappierend fand ich die Erklärung der englischen Forscher für die auch daraus resultierende Bereitschaft vieler Jazzmusiker, zu nicht zumutbaren Gagen aufzutreten.
Im Gegensatz zu Industriearbeitern, die keine Hand rühren, wenn sie fürchten, nicht bezahlt werden (und die gegebenenfalls auch auf Schwarzarbeit ausweichen können), sind Jazzmusiker darauf angewiesen, ihr individuelles und kollektives Handwerk zu erhalten.
Sie können gar nicht anders, sie müssen proben, sie müssen spielen. Selbst unter widrigen materiellen Umständen kann sich Berufszufriedenheit einstellen.
Keine Kohle - aber toll gespielt!
Soll man das - mit Mark Turner - für „ein politisches Statement“ halten?
Insbesondere wenn man die „Marginalität“ der Berufsgruppe vor Augen hat, um hier zum ersten Male auf Alan Stanbridge zu verweisen, der sich 2008 mit dem politischen Romantizismus der Jazzwelt beschäftigt hat. Demnach beträgt der Anteil des Jazz an den Tonträgermärkten diesseits und jenseits des Atlantiks nie mehr als 3 Prozent. 
(„Der Anteil des Jazz an den Tonträgermärkten“, das ist ein Indikator für die soziale und politische Relevanz des Jazz; es gibt andere, aber dieser hier ist zumindest international leicht vergleichbar.)
Noch mal genauer: von diesen „unter 3 Prozent“ entfiel in den Jahren 2002-04 in Großbritannien jeweils die Hälfte auf Jamie Collum und Norah Jones.
Es gibt noch eine weitere Dimension, die Turnersche Devise für unpolitisch und sogar anmassend zu halten. Nämlich wenn man seine Motivation der Berufswahl von Jazzmusikern mit der anderer Berufsgruppen vergleicht, die gleichfalls „gegen den Primat des materiellen Erfolgs“ sich aussprechen, und dies erheblich überzeugender. Unter ihnen nämlich wird niemand je die Chance haben, in die Einkommensklasse einer Norah Jones aufzurücken.
Hat man je von einer Krankenschwester, von einem Feuerwehrmann, von einem Erzieher gehört,  die ihre Berufswahl in den Rang eines „politischen Statements“ gehoben hätten?
Dabei können diese Berufsgruppen, z.T. Heilberufe, geradezu unschlagbaren sozialen Nutzen anführen, wohingegen der von Jazzmusikern - freundlich gesagt - diffus bleibt.
Ich möchte nicht bestreiten, dass Mark Turner sich einst so für den Beruf des Jazzmusikers entschieden hat, wie er es nachträglich gegenüber der NZZ motiviert. Die subjektive Stimmigkeit ziehe ich nicht in Zweifel, wohl aber ob sie auch außerhalb des Bewusstseins von Mark Turner wahrgenommen wird. Ob sie sich durch seine Berufsausübung, nämlich sein Spiel, anderen mitteilt. Und vor allem, ob sie überhaupt zutreffend ist.
Oder - und das ist mein Verdacht, dem ich nachgehen möchte - ob es sich hier um Selbstbetrug, um eine Ideologie, um Jazz-Ideologie handelt, letztlich um Rezeptionssteuerung. Also darum, dem Zuhörer in ihrem Wert schwer einschätzbare Klänge zu verkaufen, indem ein moralisches Plus, eine Aura, dazu gedichtet wird und ihn oder sie in dem Gefühl wiegen, den richtigen Anbieter gewählt zu haben.
Alan Stanbridge, ein Brite, der in Toronto Media Studies unterrichtet, hat in seinen Betrachtungen zur „Marginalität“ der hier in Frage kommenden Berufsgruppe bzw. des Genres, das sie repräsentieren, interessante Entdeckungen gemacht.
Sein Betrachtungswinkel richtet sich hier auf „impacts and benefits of the arts“.
Demnach wird der Minderheitenstatus bestimmter Formen des Jazz und der Improvisierten Musik seit dem Bebop, als seit den 40er Jahren, mit einer oppositionellen politischen Haltung verbunden, verstärkt in den 60ern durch die „Black Nationalist Agenda“. Von dessen politischem Widerstand träumt gerne Ingrid Monson; und ich habe erst vor einem Jahr wieder erlebt, auf der rhythm changes Konferenz in Birmingham, wie Standbridge aus der Tiefe des Auditoriums auftaucht und freundlich, aber bestimmt, die liebe Ingrid am Rednerpult darauf hinweist, dass es mit den „politischen“ Girlanden des Jazz nicht weit her ist.
Sein Lieblingszitat dazu stammt von Bob Ostertag, dem Sample-Künstler, der sich übrigens in Nicaragua wirklich „engagiert“ hat (ähnlich Moosdorf); ein Zitat, das auch schon im Vorfeld dieser Tagung in Schaffhausen aufgetaucht ist:

„Ein Stück Improvisierter Musik, dem man einen politischen Titel verleiht, bleibt Musik und wird nicht Politik. Dreh- und Angelpunkt sind hier Art und Umfang der ´politischen´ Rhetorik und Vorstellungen der Beteiligten, die tatsächlich nichts anderes sind als künstlerische Absichten“. (pursuits)

An anderer Stelle greift Starbridge ganz weit zurück, auf Plato.
Nach dessen Worten verfügen weder der Dichter noch der Künstler über privilegierten Zugang zu höherem Wissen.
Tatsache ist: die Künstler-Aussagen, die sich als politische ausgeben, sind nun mal in der Welt; wir haben einige von davon gehört. Der Soziologe Helmut M. Artus nennt sie „sekundäre politische Interpretationen“ und bezieht sich dabei auf den FreeJazz:

„Eines kann nicht abgestritten werden: dass die sekundäre politische Interpretation, die dem Free Jazz gegeben wurde, zum festen Bestandteil des Musiker- und Rezipientenbewusstseins und damit real wirksam geworden ist.“

Kleine Lesehilfe: Artus bestätigt die Existenz von Interpretationen - er bestätigt nicht die Gültigkeit ihrer Inhalte. Das war 1976 im deutschen Jazzmagazin „jazz podium“. 
Ich beziehe mich auch heute noch gerne auf die - leider - wenigen Arbeiten von Artus, weil sie - vielleicht später Peter Niklas Wilson ausgenommen - einen Augenaufschlag lang die deutsche Jazzpublizistik auf einem Niveau zeigten, das man „intellektuell“ nennen kann.
Mit anderen Worten: unsere heutige Debatte ist alt, sie war aber auch schon 1976 alt, und es gibt sie laut Alan Stanbridge mindestens seit den Tagen des Bebop - wir drehen uns im Kreise.
Denn mögen wir uns auch noch so sehr politisch gerieren, die Gegenseite bemerkt wenig davon. „Politisch“ ist nicht nur das, was wir in der Welt unserer Kunstform dafür halten. Politisch  -  und damit meine ich politisch wirksam - wird es erst, wenn es andere, nicht einschlägig Vor-Beschallte, es als „politisch“ wahrnehmen und sich dazu verhalten. Wozu auch Ablehnung gehören kann. Weghören.
Der Jazz steht hier, wieder einmal, nicht allein. Andere können das noch viel besser, denken Sie an die Bildende Kunst, denken Sie an Joseph Beuys; was hat der für ein Rauschen erzeugt!
Der Wissenschafts-Journalist, heute Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, hat das auf die Formel gebracht (ich zitiere aus der Erinnerung):

„Der Künstler protestiert - und die Kanzlerin merkt nichts davon.“

So sehr wir im Jazz auch den Dialog, das Miteinander der Musiker auf der Bühne, mit sozial aufgehübschten Vokabular als „demokratisch“, als „Gesellschaftsmodell Jazz“ feiern mögen - und warum warum sich gleichwohl kaum etwas von der Bühne in die Gesellschaft transferieren lässt, das können wir bei Helmut M. Artus nachlesen:

„Jazzmusik eignet sich in keiner Weise als Ausgangspunkt für politisch wirksame Lernprozesse, weil die leitenden Begriffe entweder im musikalischen Bereich eine andere Bedeutung haben als im sozialen oder deren Sinn entscheidend verkürzen und damit so entstellen, dass sie keinen politischen Erkenntniswert mehr haben.“

Was Artus seinerzeit nicht einmal ahnen, was wir heute aber wissen können, ist: die empirische Jazzforschung kommt mit Erkenntnissen voran. Jüngst haben zwei französische Sozialwissenschaftler - Jean-Julien Aucouturier und Clément Canonne - nachgewiesen, dass soziale Attitüden (z.B. jemanden dominieren, jemanden unterstüzen, jemanden verhöhnen) rein klanglich von Hörern erkannt werden können: aus der Improvisation im Duo-Format.
Mein Gott, ist das basal. Für die Musikpsychologie ist das ein bahnbrechendes Resultat, es widerlegt andere. Aber für uns, für unseren politischen Traum von Jazz, sind das Erkenntnisse von der Größe einer Fingerspitze. 
Ich kenne Clément Canonne, er hat auch improvisierende Groß-Kollektive untersucht, und sagt, bei mehr als 6 Teilnehmern geht die Orientierung für das Ganze verloren.
(Ich räume ein, das Konzert von Globe Unity beim Jazzfest Berlin 2016 fand ich auch deshalb so furchtbar, weil mir dazu Clément Canonne einfiel…)
Ganz grundsätzlich; die vielen schönen Analogien von Musik zur Sprache, die häufige Metapher vom „Dialog auf der Bühne“ - sie vernebeln eher den klaren Gedanken, dass wir mit unserer Art Klänge „politisch“ nichts erreichen können. Wir werden gar nicht so wahrgenommen, ich kenne keine entsprechende Folgen; im Gegenteil, wir in unserem 3-Prozent-Ghetto schlagen andere ästhetisch in die Flucht, wir schmoren im eigenen Saft.
Musik ist im Gegensatz zur Sprache nicht propositional. Sie kann keine Aussagen machen.
Der 1981 verstorbene tschechische Musikwissenschaftler Peter Faltin hat dafür dieses wunderbare Bild gefunden; es gilt m.E. auch für die Improvisierte Musik:

„Man komponiert nicht, um jemandem eine Mitteilung zukommen zu lassen, sondern um eine musikalische Idee zu realisieren, eine Situation zu bewältigen oder ein Problem zu überwinden.“

Noch einmal, das Allermeiste, was uns in der Welt des Jazz als „politisch“ vorkommt, ist Produkt dieser auch hier beschriebenen Kategorienverwechslung. Welcher Rollentausch nötig wäre, ginge es im Sinne von Mark Turner zu, deutet folgendes Zitat von Charlie Haden an. Es stammt von ihm selbst, es ist ein Interview-Ausschnitt, gesendet vom amerikanischen National Public Radio, anlässlich eines Nachrufes auf ihn, 2014:

„Wenn ich mein Instrument niederlege, beginnt die eigentliche Herausforderung: nämlich der Mensch zu sein, der man ist, wenn man spielt - das ist die Schlüsselfrage, das ist der wirklich harte Teil“.

Ich möchte schließen mit einem Zitat, das ich nicht recht einordnen kann. Es steht hier für ein Politikverständnis, das ich gar nicht erfasst habe.
Weil es mir zu diffus ist.
Weil es ebenso auch für anderen Musikgattungen gelten kann (das ist ein riesiges Problem der Jazz-Ideologie, dass sie unsere Gattung für den Nabel der Welt hält; Fenster zu).
Das folgende Zitat steht hier, weil es - vielleicht - ein Zeichen jener „micro politics“ sein könnte, einer „Mikro-Politik“, wie sie der englische Musiksoziologe George McKay vorschlägt. Diese enthält eine Absage an jegliche Form von Utopie und stützt sich auf das „community buildung“
(Obwohl, wenn ich an die Umgangsformen in unserer, in der jazz-community, denke, dann wird mir eher blümerant, als dass ich darin auch nur schemenhaft die Konturen eines export-fähigen Modells erkennen könnte.)
Sei´s drum. Das folgende Zitat steht hier vor allem, weil es ideal in die anschließende Diskussion überleitet: das Objekt der folgenden Aussage ist nämlich anwesend. (Pardon für „Objekt“, im Englischen wäre es charmanter ausgedrückt: „subject“).
Das Zitat datiert von Dezember 2016, es stammt vom damaligen Außenminister, inzwischen Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter Steinmeier … dem eine gewisse Jazz-Affinität nachgesagt wird. 

„Abends sind wir in der Hauptstadt Bischkek in eine Jazzkneipe gegangen. Julia Hülsmann hat sich ans Klavier gesetzt und alle Anwesenden mitgerissen. Was sich den Kirgisen über die Musik erschlossen hat, war vielleicht mehr und etwas viel Tieferes als das, was am nächsten Tag in den Zeitungen gestanden hat.“
Frank-Walter Steinmeier (Tagesspiegel, 07.12.2016)

Merci vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.
Pardon. Ich habe noch etwas vergessen. Ich habe die Eingangsfrage gar nicht beantwortet:
„Jazz ist stets politisch“. Stimmt der Satz von Mark Turner? Und wenn ja, wie müsste dieser Jazz klingen?“
Ich halte sie für eine rhetorische Frage. Ich kann sie, ich muss sie nicht (mehr) beantworten.
Ich möchte schließen mit einem Lieblingszitat.

„Wovon man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen." (Ludwig Wittgenstein)

 * Impulsreferat bei den Schweizer Jazzgesprächen, Schaffhausen/CH, 13.05.2017


© Michael Rüsenberg, 2017
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