Kivy's Welt - oder: Wovon spricht Musik?

Zur Musikphilosophie von Peter Kivy
HR2, 20.11.2002

 


MUSIK
URI CAINE/CONCERTO KÖLN Diabelli Variations, Variation XXXII, 5:03

 


Zitat PETER KIVY

Ich schätze, ich geniesse, ja ich liebe Absolute Musik - eben weil sie keinen Inhalt hat.

Es ist eine wichtige Tatsache, dass Romane und Dramen semantischen Inhalt haben - Streichquartette aber nicht.

Wie sehr auch immer der Gesang der Vögel nach Musik klingen mag - er kann nicht Musik sein - es sei denn, wir würden den Vögeln uns vergleichbares Denkvermögen zuschreiben...

wozu die wenigsten wohl bereit sein werden.

MODERATION

Aussagen und Thesen von PETER KIVY,Professor für Philosophie an der Rutgers University im US-Bundesstaat New York. PETER KIVY hat seine Musikphilosophie in einem Dutzend Büchern dargelegt, wovon freilich keines ins Deutsche übersetzt ist. Diese Sendung will mit wesentlichen Aspekten des Denkens von KIVY bekanntmachen und versuchen, diese auf unseren musikalischen Alltag zu beziehen. Im Vordergrund steht dabei die von ihm sogenannte Absolute oder Reine Musik, also die Instrumentalmusik der klassisch-romantischen Periode.

PROF GÜNTER ZÖLLER (Universität München)

Er ist von seiner akademischen Herkunft her ein Schüler des ganz bedeutenden Ästhetikers in den USA für die zweite Hälfte, die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, ARTHUR DANTO, der über lange Jahre weg an der Columbia University in New York gelehrt hat.

Und es gibt auch gewisse Hinsichten, vor allem in der Entwicklung von KIVY´s Arbeit in den letzten Jahren, die ganz klar verpflichtet sind einer bestimmten Konzeption bei ARTHUR DANTO, dem, was er "Die Kunstwelt" nennt.

Dass Kunst und Kunstwerke nicht zu verstehen sind im Kontext von ausser-ästhetischen Bezügen auf soziale, psychologische oder anderweitige Faktoren, sondern einen Innenbezug haben, auf eine eigentümliche Welt, in der sie operieren, auf eine Kunstwelt, die "world of art".

MODERATION

GÜNTER ZÖLLER, Professor für Philosophie an der Universität München.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Und die gezielte Beschäftigung KIVY´s mit Absoluter Musik, wie wir es jetzt genannt haben, oder reiner Instrumentalmusik, die gehört in diesen Kontext letztlich.

Einer Konzeption von Kunst, in diesem Falle einer speziellen Form der Kunstausübung, auch sehr lokal begrenzt auf ein paar Jahrhunderte in der Abendländischen Kunstmusik, die diese Art von Selbstabgeschlossenheit und Selbstbezüglichkeit hat,

die DANTO, sein Lehrer, ganz allgemein der Kunst überhaupt zuspricht.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Er hat begonnen mit Arbeiten zur Geschichte der Ästhetik, insbesondere im 18. Jahrhundert und im Englisch-sprachigen Raum.

Der Autor, mit dem er sich besonders beschäftigt hat, heisst FRANCIS HUDGKINSON aus dem 18. Jh. Und er hat dann dieses Spezialinteresse entwickelt und bis heute fortgeführt in der Musikphilosophie.

Und durch den Ausgang von DANTO und überhaupt das akademische Training in den USA, gehört er eine eine Entwicklung, die man Analytische Musikphilosophie nennen könnte.

MODERATION

Die Werke von PETER KIVY, wie gesagt, sind nicht ins Deutsche übertragen; GÜNTER ZÖLLER ist einer der wenigen hierzulande, die sich mit KIVY´S Musikphilosophie befassen.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Die Analytische Philosophie ist eine Hauptströmung - sehr vielfältig! - aber doch von einer gewissen methodischen Homogenität in Amerika und darüberhinaus auch in England und im kontinentalen Europa, von immer wachsenden Bedeutung. Und sie wäre am besten formal zu charakterisieren durch eine Beachtung sehr rigoroser Standards des Argumentierens, der philosophischen Reflexion und damit verbunden eine Einstellung von Kritik oder auch Polemik gegen traditionelle oder alternative Formen des Philosophierens, die sich nicht diesen rigorosen Standards zu beugen scheinen.

MODERATION

Eine zentrale These in der Musikphilosphie von PETER KIVY lautet:

die Absolute Musik - damit meint er die reine Instrumentalmusik der "Klassik" - die Absolute Musik habe überhaupt keinen Inhalt, abgesehen vom musikalischen Inhalt wie Themen, Harmonien, Kontrapunkt usw.

Diese These ist nicht neu.

Aber sie entfaltet doch eine erfrischende Wirkung, wenn man mit ihr Texte der Musikpublizistik untersucht.

Und sich - nun mit PETER KIVY - fragt:

kann man dieses und jenes eigentlich über Musik sagen?

Z.B. was der deutsche Musikwissenschaftler HANS HEINRICH EGGEBRECHT über die Notenfolge B-A-C-H in "Die Kunst der Fuge" von JOHANN SEBASTIAN BACH behauptet?


MUSIK (Ende) URI CAINE Diabelli Variations, Variation XXXII


MUSIK

KENNETH GILBERT Kunst der Fuge, Fuga 11, 3:08


Zitat HANS HEINRICH EGGEBRECHT

Die Verbindung des Namens BACH mit diesem emphatischen, in seine Bestandteile zergliederten Klausulierungsprozeß läßt den Gedanken aufkommen, daß Bach - ich wiederhole mich jetzt - hier nicht hat sagen wollen: Ich, BACH, habe das komponiert, sondern daß er zu verstehen gibt:

Ich, BACH, bin mit dem "Grundton" verbunden, will und werde ihn erreichen.

Genauer, wenn auch ein Stück weiter interpretiert: Ich, BACH, bin - wie du es bist - das menschliche Dasein (im christlichen Verstande), der erlösungsbedürftige, im Glauben erlösungsgewisse, aus Gnaden erlöste Mensch.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Ja, da geht´s drum: kann man jetzt eine - im emphatischen Sinn religiöse, theologische Interpretation an derart abstrakte Absolute Musik wie dieses Kunstwerk der "Kunst der Fuge" herantragen?

Und KIVY fragt in seiner schlichten und fast schon naiven Manier:

was hätte man da denn für Anhaltspunkte, und was wären dann die Kriterie und die Berechtigungen dafür, so zu verfahren?

Zitat PETER KIVY

Ich denke, wir gehen dem Problem auf den Grund, durch die simple Beobachtung, dass die doppelte Kadenz eingesetzt werden kann - nicht, um irgendetwas zu sagen, sondern um alle möglichen Dinge darzustellen. Sie könnte repräsentieren: die Suche nach und das Erreichen eines beliebigen Zieles.

Erlösung, na klar, aber genauso gut: Sieg über deine Feinde; Heimkehr nach einer langen Reise; ein Problem lösen; auf ewig glücklich leben usw. usw.

Ich sage, sie könnte all diese Dinge wiederspiegeln. Aber wie können wir wissen, welche denn nun wirklich repräsentiert werden?

Und noch wichtiger: wie können wir wissen, dass überhaupt irgendetwas dargestellt wird?

PROF GÜNTER ZÖLLER

Und er kann dann auch darauf hinweisen, dass EGGEBRECHT selbst da sehr viele Konzessionen macht und das als eine persönliche Lesart präsentiert, die er dann aber sehr detailliert ausführt und mit der er einen ziemlichen Erkenntnisanspruch über das Werk von BACH in diesem Fall verbindet.

Da geht´s also KIVY - methodisch gesehen - wohl eher darum, eine gewisse Inkonsistenz bei einem Autor herauszustellen, der einerseits sagt: das ist jetzt eine persönliche Interpretation. Und der dann andererseits den Anschein erweckt, da etwas Objektives über den Sachgehalt dieser Musik auszusagen.

Zitat PETER KIVY

Eggebrecht entdeckt so viele Bach-Themen in "Die Kunst der Fuge" wie seinerzeit Senator McCarthy Kommunisten im Aussenministerium.

Und seine Methoden der Entlarvung sind genau so anrüchig.

 


MUSIK (Ende)

KENNETH GILBERT Kunst der Fuge, Fuga 11


MUSIK

CAPELLA COLONSIENSIS Joseph Haydn Sinfonie Nr 92, 4. Satz, 2:42


MODERATION

Die Tatsache, dass JOSEPH HAYDN in seiner Sinfonie Nr 92 zwei Themen nebeneinander bestehen lässt, bewertet der amerikanische Musikwissenschaftler DAVID P SCHROEDER als "eine Botschaft zur Toleranz"

Zitat PETER KIVY

Ein jeder weiss, dass ich nun Unsinn rede. Aber egal, wie genau auch immer ich die Partitur von HAYDN´S Sinfonie Nr 92 studiere - ich finde einfach keine solche Botschaft über Toleranz.

Wer so etwas behauptet, macht sich etwas vor. Ich meine, SCHROEDER selbst weiss das auch, weshalb er uns nie mitteilt, worin genau diese Botschaft besteht.

Zitat PETER KIVY

Der Interpret blättert vor und zurück: von der Interpretation zum Text, vom Text zurück zur Interpretation, bis sich die volle Story entfaltet.

Dieses Hin und Her von Interpretation zu Text bricht in sich zusammen - solange man wenigstens bei klarem Verstand ist -, wenn man auch nur eine minimales philosophisches, literarisches oder religiöses Konstrukt an Reine Musik heranträgt. Und aus diesem Grunde stösst man, wenn man die - zugegeben ausführlichen Analysen von EGGEBRECHT über "Die Kunst der Fuge" oder von SCHROEDER über die späten HAYDN-Sinfonien - liest, auf pure Banalitäten, die nicht einen Funken zur Erklärung beitragen, warum wir diese wundervollen Werke schätzen und mögen.

Wenn es um Reine Musik geht, versagt Inhaltsanalyse auf der ganzen Linie.


MUSIK (Ende)

KENNETH GILBERT Kunst der Fuge, Fuga 11


MUSIK

BERLINER PHILHARMONIKER/KARAJAN Peter Tschaikowsky

Sinfonie Nr 4, 4. Satz, 7:20


MODERATION

SUSAN MCCLARY mit einer frappierenden Lesart von TSCHAIKOWSKY´S vierter Sinfonie.

Zitat SUSAN MCCLARY

Wir haben hier eine Erzählung, in welcher der Protagonist Opfer sowohl patriachalische Erwartungen als auch sinnlicher, weiblicher Verführung zu sein scheint. Kräfte, die beide seine Weiterentwicklung blockieren.

Eine solche Erzählung findet ihren Widerhall in der Biographie Tschaikowskis. Als Homosexueller in einer Welt patriachalisch geprägter Heterosexualität, wurde sein Verhalten immer am Modell der "richtigen Männer" gemessen.

Zitat PETER KIVY

Kann Musik, wie die visuelle Künste, eine Story in Bildern erzählen?

Vielleicht als Klang-Cartoon?

Nun, es ist zweifellos möglich, eine minimale Story in Bildern zu erzählen - wenngleich man dabei nicht vergessen darf, wie stark Comics und Cartoons, sogar der Stummfilm, von geschriebenenen Texten abhängig sind.

Davon abgesehen verdient festgehalten zu werden, dass visuelle Darstellungen universell erkannt werden können. Sie zu entschlüsseln, ist in der Tat Teil unseres eingebauten Wahrnehmungsappartes, wie in zahlreichen Experimenten gezeigt werden konnte. (Sogar Tiere können Darstellungen erkennen.)

Das ist eindeutig nicht der Fall bei musikalischem Klang, wo Darstellung - schon innerhalb einer Kultur - stark eingeschränkt ist und ganz sicher nicht inter-kultuell identifiziert wird.

Zeigen Sie das Bild eines Mannes, einer Frau, eines Hundes, eines Baumes irgendjemandem, irgendwo... und es wird sofort erkannt als das, was es ist.

Spielen Sie die Vierte Sinfonie von Tschaikowsky vor und schauen Sie mal, wie vielen Hörern dazu die Motive "patriachalische Erwartungen" und "weibliche Verführung" einfallen.

PROF PETER ZÖLLER

KIVY geht es ganz gezielt darum, einen Diskurs zu ermöglichen, der zwischen dieser eher schwärmerischen oder auch leicht trivialisierenden Gefühlsästhetik auf der einen Seite und dem wissenschaftlichen Anspruch der Musiktheoretiker liegt. Und die Philosophie soll diesen Zwischendiskurs ermöglichen und grundlegen.

Und es geht darum, Musik als ein objektives Gebilde zu erfahren und sich das nicht zu verstellen durch über-emotionale Reaktionen auf der einen Seite und auch durch über-theoretische Inanspruchnahme auf der anderen Seite. Und das nennt er dann ein humanistisches Verständnis von Musik, von dem er glaubt, dass es auch angemessen ist für jeden, der sich ernsthaft mit Musik - und hier speziell mit Europäischer Kunstmusik der letzten Jahrhunderte - beschäftigt.

MODERATION

PETER KIVY bezeichnet seine Musikphilosophie als "enhanced formalism", als "bereicherten Formalismus".

Im folgenden stellt er sie in einen historischen Zusammenhang.

Zitat PETER KIVY

Sie ist keineswegs neu, noch steckt etwas Überraschendes in der Idee, dass Absolute Musik nichts weiter ist als reine Klangstruktur oder Design. Diese Idee war bereits während der Aufklärung bekannt.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Es ist also eine speziell musik-philosophische Position.

Und diese Position ist tatsächlich eine historisch bereits zumindest seit dem 18. Jahrhundert vorliegende Position: die Einsicht nämlich, dass Musik - insbesondere wenn sie als reine Instrumentalmusik auftritt - nicht so sehr im traditionellen Sinn als Nachahmung und Darstellung von etwas Anderem, das ausserhalb von ihr vorliegt, aufgefasst werden kann, sondern in einer gewissen Selbstgenügsamkeit sich abspielt und dann auch diesen formalen Charakter zu zeigen scheint, dass es um Formverläufe musikalischer Art geht, in Form von Notenabfolgen, Intervallabfolgen, rhythmischen Verhältnissen und auch dann grösseren Formverhältnissen wie etwa bestimmten Tanzsätzen und dem Aufbau etwa einer Sinfonie.

Und das ist dann ein Grund, von Formalismus in ästhetischer Hinsicht bei Musik zu sprechen.

Im 18. Jahrhundert und bis ins frühe 19. Jahrhundert ist das eher ein Einwand gegen die Musik. Und es bedarf einer radikalen Umwertung zu sagen: der Musik fehlt nicht der Inhalt, sondern ihre besondere Dignität, ihr ausgezeichneter Charakter liegt gerade darin, dass sie inhaltlos ist. Und diese Formalität ist eine Auszeichnung und kein Manko der Musik.

Zitat PETER KIVY

Unser Jahrhundert hat diese Auffassung von Absoluter Musik, etwas unglücklich, "musikalischen Formalismus" benannt. Ich sage "unglücklich", weil dieser Begriff fälschlicherweise nahelegt, dass man - wenn man Absolute Musik als reine, inhaltslose Klangstruktur auffasst - dabei nur an die FORM denkt.

Das ist nicht die Natur meines musikalischen Formalismus, den mein Freund und Mitstreiter PHILIP ALPERSON als "bereicherten Formalismus" beschreibt. Danach bemessen sich Wert und Wohlgefallen der Musik nicht nur an der Form, sondern an allen sinnlichen und phänomenologischen Errungenschaften der Absoluten Musik, vor allen Dingen an ihren EXPRESSIVEN Eigenschaften.

PROF GÜNTER ZÖLLER

Und wenn er jetzt sagt: er will diesen Formalismus etwas besser charakterisieren, durch das Prädikat "enhanced formalism", dann sollte man es vielleicht nicht so sehr als gesteigerten Formalismus auffassen, sondern als einen bereicherten Formalismus.

Und ich denke, es geht ihm eher darum, auf solche Elemente am Gegenstand der Musik, an der Musik selbst und auch an unserer Erfahrung von Musik namhaft zu machen, die über dieses - wie man sagen könnte - bloss Formale hinausgehen. Also etwa expressive Komponenten, die etwa Gefühle zum Ausdruck bringen und diese Gefühle dann auch auf musikalische Art und Weise vermitteln.

Und indem er jetzt "enhanced formalism" als seinen Programmtitel wählt, hat er eine Formel gefunden - so glaubt er jedenfalls -, die eben diese inhaltliche Seite noch konzediert und auch in seine Konzeption von Formalismus einbaut.


MUSIK (Ende)BERLINER PHILHARMONIKER/KARAJAN

Peter Tschaikowsky Sinfonie Nr 4, 4. Satz


MUSIKBERLINER PHILHARMONIKER/KARAJAN

Ludwig van Beethoven

Sinfonie Nr 7, 2. Satz, 6:57


MODERATION

Ein Thema durchzieht immer wieder die Musikphilosophie von PETER KIVY: Musik und Emotion.

Enthält Musik selbst Gefühle?

Kann Musik Gefühle auslösen?

Zitat PETER KIVY

Nehmen wir beispielsweise die Erfahrung mit einem Stück tief-melancholischer, ja geradezu beerdigungsreif-melancholischer Musik; sagen wir: den langsamen Satz aus Beethovens Siebter Sinfonie.

Wie alle Liebhaber Klassischer Musik finde auch ich diesen Satz tief bewegend.

Aber wodurch geschieht das?

Nun, gewiss enthält dieser Satz viele musikalische Ereignisse, die man bewundern und geniessen kann; Ereignisse, die unglaublich schön, mächtig usw sind. Und EINES dieser musikalischen Ereignisse ist diese abgrundtiefe Melancholie. Zur Erinnerung: die expressiven Eigenschaften von Musik sind MUSIKALISCHE Eigenschaften.

Zu tiefer Melancholie angeregt zu werden, bedeutete in der Tat, in einen recht unangenehmen Zustand versetzt zu werden. Aber, durch tiefe Melancholie zu Erregung, Enthusiasmus und Freude angesichts dieser musikalischen Schönheit geführt zu werden, ist im Gegenteil eine Emotion, die doch sehr wünschenswert erscheint. Das Vorhandensein dunker, unangenehmer Gefühle in tief bewegender Musik bedeutet also kein Problem für die Auffassung, die hier vertreten wird. Denn auch wenn wir durch diese Emotionen in der Musik ergriffen werden, geschieht das DURCH sie und nicht ZU ihnen hin. Wir werden von musikalischer Schönheit ergriffen.

MODERATION

Im folgenden bezieht PETER KIVY sich auf die beiden amerikanischen

Musikphilosophen JERROLD LEVINSON und STEPHEN DAVIES.

Zitat PETER KIVY

Levinson und Davies treffen eine sehr wichtig Klarstellung in ihren Theorien, wie expressive Eigenschaften der Musik die dementsprechenden Emotionen hervorrufen.

Beide verneinen, dass die durch Musik hervorgerufenen Emotionen wortwörtlich zu nehmen sind: es sind nicht Vollblut-Emotionen.

Es sind "Quasi-Emotionen", also: quasi-melancholisch oder Melancholie-ähnlich.

Der Grund für diese Klarstellung ist, dass die beiden - wir wir alle - erkennen, dass die körperlich spürbaren Emotionen über etwas verfügen, was man "Motivations-Komponente" nennen könnte - worüber ihre musikalischen Entsprechungen nicht zu verfügen scheinen.

Im realen Leben, wenn ich Angst habe, dann möchte ich flüchten; wenn ich mich ärgere, will ich mich wehren usw. Aber mich treibt nichts zur Flucht oder zum Kämpfen, wenn ich "furchtsame" bzw "wütende" Musik höre.

"Angst" und "Wut", welche Musik hervorruft, fehlt also dieser Handlungsbezug.


MUSIK COLLAGE

BERLINER PHILHARMONIKER/KARAJAN

Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr 7, 2. Satz

MILES DAVIS Milestones, 1:20

KIP HANRAHAN Small Change, 0:43


MODERATION

Kann man, so wollen wir PROF GÜNTER ZÖLLER von der Universität

München fragen - kann man die Aussagen von PETER KIVY über die Klassisch Musik auch auf andere Gattungen übertragen, vielleicht auf den instrumentalen Jazz?

PROF GÜNTER ZÖLLER

Ich denke schon, dass es möglich wäre. Und es ist wohl eher, der Erfahrungshorizont von PETER KIVY, der ihn dazu bringt, sich hauptsächlich auf diese Tradition der Klassischen Musik, wie wir das nennen, zu beziehen. Aber gerade der Jazz würde sich dafür eignen.

Es wäre eine andere Frage, ob ausser-europäische, instrumentell verfahrende Musik auf genau diese Weise dann aufzufassen wäre.

Etwa stark rhythmisch ausgeprägte Musik im afrikanischen Raum.

Und ich denke, da müsste man spekulieren. Und ich bin mir jetzt auch nicht darüber klar, wie er sich da äussern würde.

MODERATION

Wollte man die Erkenntnisse von PETER KIVY anwenden - müsste dann unser alltägliches Reden über Musik nicht doch besser verstummen?

PROF GÜNTER ZÖLLER

Vielleicht wäre es eher eine Frage der Markierung unserer Rede.

Dass wir uns darüber klar sind: wir reden da viel mehr über uns und die Art und Weise, wie Musik auf uns und in uns wirkt als dass wir über die Musik selbst reden.

Ja. Vielleicht wären die Konsequenzen zu einschneidend für´s Feuilleton und würden zu einem Minimalismus führen, der eben viel von dem, was KIVY wohl eher als das Gerede über Musik charakterisieren würde, nicht mehr erlaubte.


MUSIK

URI CAINE/CONCERTO KÖLN Diabelli Variations, Variation XXXIV, 2:08


PROF GÜNTER ZÖLLER

Und das meinte ich eben damit: dass die Feuilletons oder überhaupt unser Reden über Musik nicht verstummen müsste. Es müsste aber etwas reflektierter verfahren und sich eingestehen, was da eigentlich über uns drinsteckt und was da über die Musik selbst und als solche ausgesagt wird.

MODERATION

Das Schlusswort gebührt PETER KIVY.

Es stammt aus seinem 2002 veröffentlichten Band "Introduction to a Philosophy of Music".

Zitat PETER KIVY

Unter den Kunst-Traditionen der westlichen Welt hat die Absolute Musik als reine, abstrakte Kunst alle anderen in den Schatten gestellt.

Ganz offenkundig hat sich das Hören und nicht das Sehen als am besten geeignet erwiesen, um sich von rein formalen Strukturen fesseln zu lassen, bei Abwesenheit von darstellerischen oder semantischen Inhalten.

WARUM das so ist, bleibt der Spekulation und dem Diskurs überlasssen.

Einstweilen müssen wir es also dabei belassen.

 

verwendete Literatur von Peter Kivy:

Music Alone. Philosophical Reflections on the purely musical Experience
Cornell University Press, 1990 ISBN 0-8014-9960-7

Philosophies of Arts. An Essay in Differences
Cambridge University Press, 1997 ISBN 0-521-59829-x

New Essays on Musical Understanding
Oxford University Press, 2001 ISBN 0-19-924661-0

Introduction to a Philosophy of Music
Oxford University Press, 2002 ISBN 0-19-825048-0


© Michael Rüsenberg, 2002 Alle Rechte vorbehalten