Ist Musik ein evolutionäres Produkt sexueller Auswahl?

Ein Ausflug in die Bio-Musikologie
HR2, 17.11.2004

 


MUSIK Asmus Tietchens/Thomas Köner: Kontakt der Jünglinge

Rostok, MS Stubnitz, 19.2.01

 


ASMUS TIETCHENS

All das Gelärme von Bach über Presley bis Stockhausen dient einzig und allein der Beeindruckung des Weibchens.

 


MUSIK Hans Otte: Das Buch der Klänge, Part 1

 


GEOFFREY MILLER (Zitat, S. 337)

In aller Kürze: Musik ist eine komplexe Anpassungsleistung; sie hat Kosten, aber keine erkennbaren Überlebensvorteile. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, dass sie sich wegen ihrer Vorteile im Bereich der Fortpflanzung entwickelt hat... Musik ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Produkt der Gattenwahl. Ihre vordringliche biologische Funktion ist die des Werbens um das andere Geschlecht.

ASMUS TIETCHENS

Weil ich die Posen, sowohl der E- als auch der U-Musiker, mir allzu oft angeguckt habe. Und ohne Pose geht´s ja nicht ab. Aber erst die Knöpchendreher - guck´ Dir mal Thomas z.B. an! Das sieht nicht mehr beeindruckend aus. Oder auch ich, wenn ich hier sitze, das sieht ja nicht mehr beeindruckend aus. Das zusammen mit diesen z.T. ja flehenden Klängen, die da verursacht werden, die da erzeugt werden, also flehend im Sinne von - ich hätte beinahe gesagt "nimm´ mich!" - das zusammen liess dann die Vermutung in mir aufdämmern.

All das Gelärme von Bach über Presley bis Stockhausen dient einzig und allein der Beeindruckung des Weibchens.

Naja, vielleicht liege ich ja nicht so verkehrt.

MODERATION

Asmus Tietchens vom Elektronik-Duo "Kontakt der Jünglinge", zusammen mit Thomas Köner.

Der Gruppenname "Kontakt der Jünglinge" enthält keinerlei homo-erotische Referenzen, sondern bezieht sich auf zwei historische Werke des Komponisten Karlheinz Stockhausen.

GEOFFREY MILLER

Seit Darwin hat man versucht, Überlebensvorteile für Musik herauszufinden. Aber niemanden ist das bisher gelungen. Es gibt verschiedene Theorien über den Gruppenzusammenhalt oder die Mutter-Kind-Beziehung, dass durch Musik Menschen eher bereit sind, in den Krieg zu ziehen oder für das Gemeinwohl zu engagieren - aber keine funktioniert im Sinne der Evolution.

Weil sie nicht den Überlebensvorteil für das Individuum identifizieren können. Was meine Theorie hingegen anders macht, ist, den Fortpflanzungsvorteil für den einelnen Musizierenden zu benennen.

MODERATION

Geoffrey Miller, Jahrgang 1965, Professor für evolutionäre Sozial-Psychologie an der University of New Mexico, in Albuquerque.

ASMUS TIETCHENS

Ja, das finde ich überraschend, dass dieses Thema von dieser Ecke her ernsthaft aufgerollt wird. Das finde ich in der Tat überraschend. Auch hochinteressant. Sollte da irgendwann mal etwas greifbar sein, irgendwas tatsächlich publiziert sein, dann würde ich´s gerne mal lesen.

GEOFFREY MILLER (Zitat, S. 356)

Musik ist eine biologische Anpassung, universell unter den Menschen, unterscheidbar von anderen Anpassungen, und viel zu komplex, als dass sie anders hätte entstehen können als durch direkte Selektion zu Zwecken des Überlebens oder der Fortpflanzung. Da die Produktion von Musik keinerlei Überlebensvorteile bietet, sind ihre Chancen für die Fortpflanzung eine Untersuchung wert.

Wie Darwin betont, sind die komplexesten, kreativsten akustischen Zeichen in der Natur Folgen der sexuellen Selektion und fungieren als Balz-Merkmale bei der Wahl sexueller Partner.

Die demographischen Daten der Musikproduktion zeigen, was man von einem sexuell gesteuerten Merkmal erwartet, nämlich eine grosse Über-Repräsentation junger Männer. Musik hat verschiedene Merkmale, die als verlässliche Indikatoren für Fitness, Gesundheit und Intelligenz dienen können; sie hat ästhetische Eigenschaften, die unsere kognitive und emotionale Wahrnehmung anregen können.

MODERATION

In seinem Buch "Die sexuelle Evolution" vertritt Geoffrey Miller die These, "dass zahlreiche Aspekte des menschlichen Geistes das Produkt der sexuellen Selektion sind".

Musik kommt darin nicht vor.

Musik behandelt er in einem eigenständigen Aufsatz unter dem Titel: "Evolution of Human Music through Sexual Selection".

Diese Sendung bezieht sich auf diesen Aufsatz.

Er steht im Internet, aber auch in dem Band "Origins of Music", einem Sammelband der neuen Richtung der Bio-Musikologie.

 


MUSIK Hans Otte: Das Buch der Klänge, Part 12

 


ECKART VOLAND

Geoffrey Miller ist jemand, der die Wissenschaft enorm bereichert hat mit tollen, interessanten Thesen, indem er eine Frage stellt, die sich gar nicht so ohne weiteres beantworten lässt, die aber durchaus wichtig ist: nämlich die Frage nach den naturgeschichtlichen Hintergründen vieler Aspekte des menschlichen Lebensvollzugs, für die es normaleerweise keine naturgeschichtliche Antwort gibt. Und Ästhetik, Kunstgenuss gehört natürlich dazu.

MODERATION

Professor Eckhart Voland. Er lehrt Philosophie der Bio-Wissenschaften an der Universität Giessen.

Er ist zusammen mit Karl Grammer Herausgeber des Bandes "Evolutionary Aesthetics".

ECKHART VOLAND

Also, die Idee hat ja was! Zunächst erst mal kann man fragen: ist Musik nützlich? Im konventionellen biologischen Sinn müsste man sagen: nein!

Musik hilft nicht bei der Sicherung des Überlebens, hilft nicht bei der Subsistenz, hilft nicht bei der Kindererziehung - hilft überhaupt in keinem Bereich, der biologisch irgendwie nützlich ist. Aber Musik hat natürlich - jeder weiss das - sehr viele Konnotationen, sehr viele Querverbindungen zum Wohlbefinden, zur Erotik, zum Vergnügen. Und, könnte es nicht sein - als Frage, die berechtigerweise gestellt werden kann -, dass die Frage der Nützlichkeit falsch gestellt ist, sie greift ganz einfach nicht.

Sondern, vielleicht soll ja Musik, wie viele andere künstlerische Betätigungen auch, beeindrucken. Soll ein Publikum davon überzeugen, dass derjenige, der die Musik produziert, etwas darstellen kann, was von Interesse ist.

GEOFFREY MILLER

Es handelt sich um die Anwendung einer Theorie, nämlich Darwins Theorie der sexuellen Selektion; diese Theorie ist gut entwickelt und erprobt seit mehr als hundert Jahren. Ihre Anwendung auf menschliche Musik ist eine kleine Hypothese. Sie ist noch stark in Entwicklung und bedarf weiterhin mancherlei Forschung.

ECKHART VOLAND

Seit Darwin wird das Evolutionsgeschehen in zwei grosse Bereiche zerteilt. Das ist mehr eine analytische Teilung als eine reale. Der eine Bereich - die natürliche Selektion - handelt davon, dass die Merkmale der Organismen ausgelesen werden in der Natur nach ihrer Tauglichkeit, danach wie sie dem "survival of the fittest", wie die Fachleute sagen, zuarbeiten. Also Merkmale, die ökologisch sehr angepasst sind, sehr effizientd sind, haben eine bessere Chance, positiv ausgelesen zu werden und zum genetischen make up der nächsten Generation zu gehören.

Aber das ist nur eine Seite des Evolutionsgeschehens. Ginge es nur auf dieser Schiene voran, würden wir nicht erklären können, warum Organismen teilweise Merkmale haben, die alles andere als nützlich sind. Denken Sie an die Prachtgefieder, an die Gesänge der Nachtigall, an das riesige Geweih von Rothirschen, an die dunkle Mähne der Löwen und vieles andere. Das sind Merkmale, wo es schwerfällt, irgendeine Nützlichkeit im konventionellen Sinn festmachen zu können.

Und da sagen die Evolutionisten: diese Merkmale sind nicht natürlich selektiert, sondern sie sind sexuell selektiert, weil sie bei der Partnerwahl eine ganz entscheidende Rolle spielen. Die Männchen produzieren Schaumerkmale, mit denen sie sich den Weibchen anbieten. Die Weibchen - in aller Regel jedenfalls ist es so, gibt auch Beispiele, wo es andersherum ist, aber nehmen wir mal den einfachen Fall - und die Weibchen schauen sich diese Merkmale an und wählen danach das Männchen aus, mit dem sie sich einlassen wollen und den sie zum Vater ihrer Kinder machen. Das sind also Merkmale, die nicht nützlich sind beim Überleben, bei der Lebenssicherung. Sondern es sind Merkmale, die nützlich sind im Kontext der sexuellen Konkurrenz.

 


MUSIK Hans Otte: Das Buch der Klänge, Part 4

 


MODERATION

Geoffrey Miller, "Evolution der menschlichen Musik durch sexuelle Selektion".

Der Begriff "Erotik" taucht in diesem Text überraschenderweise gar nicht auf.

GEOFFREY MILLER

Ich verwende den Begriff "Erotik" deshalb nicht, weil es wichtig ist zu unterscheiden, zwischen dem Musizieren selbst und dem Inhalt oder dem Genre der Musik.

Nehmen wir ein Beispiel: es ist denkbar, einen Partner zu gewinnen durch sehr abstrakte Musik, sagen wir eine 12-Ton-Symphonie von Schoenberg, die inhaltlich völlig unerotisch sein mag - gleichwohl aber eindrucksvoll. Sie kann Kreativität und Intelligenz auch dann vermitteln, wenn sie einen nicht in eine romantische Stimmung versetzt.

Andererseits mögen Liebes-Lieder von Stil oder Inhalt her erotisch sein, aber zugleich auch dumm, langweilig und ohne jeden Eindruck auf einen potentiellen Partner.

Ich möchte betonen, dass Musik - wenn sie denn durch sexuelle Selektion entstanden ist - genau so wie das Rad eines Pfau´s keinerlei erotischen Inhalt haben muss.

ECKHART VOLAND

Damit hat er vollkommen recht mit diesem Einwand. Und zwar deshalb, weil man unterscheiden muss die psychologische Ebene der Selbstwahrnehmung und die Ebene der biologischen Evolution. Das sind zwei vollkommen verschiedene Sachen.

Also das, was fortpflanzungstauglich ist, kann auf der wahrgenommenen Ebene in der Tat vollkommen "uncool" sein, mit Sex überhaupt gar nichts zu tun haben; das ist alles naürlich möglich. Auch Emotionen, die eher als negative Emotionen gewertet werden wie Angst, Depressivität, Trauer und diese Geschichten, haben natürlich ihre biologische Funktion, sind von daher letztlich lebensdienlich. Aber ihre Empfindung ist alles andere als vergnüglich.

 


MUSIK Miles Davis: Tutu

 


GEOFFREY MILLER (Zitat, S. 337)

Musik verfügt über bestimmte Eigenschaften als Produkte der sexuellen Auswahl. Sie wird spontan ausgeübt, trotz energetischer Kosten und ihrer Nicht-Eignung als Überlebens-Mittel. Sie kommt auffallend beim Werben zum Einsatz, weniger allerdings nach der Paarung. (Von Miles Davis stammt die berühmte Beobachtung, Musiker würden - wie Athleten - vor wichtigen Konzerten auf Sex verzichten, weil sie den sexuelle Anreiz brauchen, um gut zu spielen).

ECKHART VOLAND

Eine evolutionäre Interpretation der Merkmale muss abstellen auf eine Passung zwischen Merkmal und dem Kontext, in dem dieses Merkmal entstanden ist. Es kann sein, dass die Musik in Kontexten entstanden ist und damals nützlich war, als sie entstanden ist, in Kontexten, die wir heute auch noch wiederfinden. Wenn ich beobachte, was teilweise passiert in der Popkultur, wenn die boygroups sich produzieren und Mädchen sich hingeben in ihrer Leidenschaft für diese Jungs, ist das ein Kontext, wo ich durchaus Vergleichbares vermuten kann zu früheren Kontexten. In anderen Kontexten ist das nicht so.

 


MUSIK Jimi Hendrix: Voodoo Chile

 


GEOFFREY MILLER (Zitat, S. 331)

Würde die Evolution nach dem Prinzip arbeiten, wonach nur der am besten Angepasste überlebt, wäre die menschliche Musik nicht zu erklären.

Nehmen wir z.B. Jimi Hendrix. Dieser aussergewöhnliche Rock-Gitarrist starb 1970 im Alter von 27 Jahren, an einer Überdosis Drogen, mit denen er seine musikalische Fantasie anfeuerte. Seine Musik-Produktion, 3 Studio-Alben sowie hunderte Konzerte, brachten ihm keinen Überlebens-Vorteil. Er hatte freilich sexuelle Liaisons mit hunderten von Groupies, unterhielt parallel dazu langjährige Beziehungen zu wenigstens zwei Frauen und war Vater von mindestens drei Kindern in den USA, in Schweden und Deutschland. Unter den Lebensbedingungen seiner Vorfahren, also vor der Geburtenkontrolle, hätte er noch weitaus mehr gezeugt.

Hendrix´ Gene für musikalisches Talent haben sich innerhalb einer Generation wahrscheinlich verdoppelt.

Nach Darwin bezeichnen Schönheit und emotionale Kraft der Musik keinen metaphysischen Ursprung, sondern sie verweisen auf den Ursprung in der sexuellen Selektion, wo es ein Zuviel nicht gibt. Die Hendrixe unter unseren hominiden Vorfahren konnten nicht sagen: "Okay, unsere Musik ist gut genug, wir hören jetzt auf!" - weil sie nämlich konkurrierten mit all den Eric Claptons, Jerry Garcias und John Lennons unter den Hominiden.

Die ästhetische und emotionale Kraft der Musik entspricht genau dem, was unser Gehirn aus dem Waffenarsenal der sexuellen Selektion anspricht.

 


MUSIK Steve Reich: City Life; Heartbeats/boats & buoys

 


MODERATION

Musik als Produkt der sexuellen Selektion; ein Problem dieser Theorie besteht darin, dass sich bestimmte Bereiche des heutigen Musiklebens damit nicht beschreiben lassen - z.B. die Avantgarde-Musik.

ECKHART VOLAND

Sie haben vollkommen Recht mit Ihren Bedenken. Nur eines muss man zunächst einmal zugute halten, für den Miller-Ansatz. Die Vorteile, von denen er spricht, sind Vorteile im Durchschnitt und auf Dauer. Es heisst nicht, dass jeder einzelne, der sich an diesem Unternehmen beteiligt, auch Erfolg haben wird. Die Geschichte ist reich an Künstlern, die gescheitert sind "im richtigen Leben", die also den Zweck nicht erfüllt haben, weswegen ihre Musikalität, ihre Genialität letztendlich biologisch evolviert ist.

Aber mit gleicher Berechtigung kann man Gegenbeispiele nennen, grossartige Künstler, die ihr Leben durchschritten haben als nimmersatte Liebhaber und die die Frauen wirklch beeindruckt haben durch das, wie sie aufgetreten sind und was sie darstellen. Also die Liste ist ohne Ende natürlich, jeder weiss das. Aber die Frage ist die nach den Mittelwerten, nach den prinzipiellen, zentralen Tendenzen.

MODERATION

Es ist unerlässlich zu berücksichtigen, dass Geoffrey Miller seine Thesen zur Evolution der Musik aus der sexuellen Selektion am Beispiel vorgeschichtlicher Gesellschaften entwickelt hat.

GEOFFREY MILLER

Meine Grundthese lautet: in vorgeschichtlicher Zeit war Musik von sexueller Attraktivität. Wenn man Musik mit handwerklichem Geschick, Virtuosität und Kreativität vortragen konnte, dann war das sexuell attraktiv. Aus diesem Grund können wir auch heute Musik produzieren.

Das muss micht unbedingt heissen, dass auch heutzutage Musizieren die beste Paarungsstrategie ist. Viele Komponisten investieren viel Zeit und Energie in Werke, die weder aufgeführt noch anerkannt werden, und sie sterben als Singles, kinderlos. Andererseits ziehen einige Rockmusiker hunderte von Groupies an.

Die Reproduktionsvorteile von Musik in modernen Gesellschaften können also sehr hoch sein - oder auch null.

Der wissenschaftlichen Theorie geht es um die Vergangenheit. Sie fragt nach den Vorteilen für Musik in vorgeschichtlicher Zeit der menschlichen Evolution.

GEOFFREY MILLER

Wir leben in einer besonderen Situtation: die meisten unter uns hören Musik von der Konserve aus dem Radio oder von der CD, die wenigsten sind professionelle Musiker, die Musik selbst herstellen. Ich habe mit meiner Arbeit darauf hinzuweisen versucht, dass die Menschen der Vorzeit sowohl Produzenten als auch Konsumenten von Musik waren. Die einzige Möglichkeit, Musik zu geniessen, war live, mit Leuten, die wir kennen und mit denen wir im Kontakt stehen. Sollte uns die Musik beeindruckt haben, so hatte das einen Effekt auf unsere sozialen und sexuellen Beziehungen zu ihnen.

Frage: Wenn ich Sie richtig verstehe, müsste man bei der Musik ästhetisch unterscheiden zwsichen der evolutionären Funktion der Musik, die eine historische ist, und der Gegenwart, wo wir vielleicht Musikformen haben, auch Formen des Musizierens, wo dies nicht mehr zutrifft. Wenn wir z.B. an Avantgarde-Kontexte denken?

ECKHART VOLAND

Genau so ist das. Also die Avantgardemusik, die kein grosses Publikum findet, ist sicherlich kein Beispiel für eine Musikausübung, die in früheren Zeiten dazu da war, ein Publikum anzuziehen. Aber interessanterweise ist ja schon die Beobachtung, dass diese Avantgardemusik auch nicht in der Lage ist, ein grosses Publikum für sich zu vereinnahmen. Also offenbar gibt es da psychologische Sperren, psychologische Hemmnisse, die den Normalsterblichen daran hindern, sich auf diese Musik einzulassen. Und man muss fragen: warum ist das eigentlich so?

 


MUSIK Hans Otte: Das Buch der Klänge, Part 1

 


GEOFFREY MILLER (Zitat, S. 353)

Im Hinblick auf quantitative Daten zur Hypothese der sexuellen Selektion wissen wir weitaus mehr über die Rufe des kleinen, gelbgrauen, sub-tropischen Tungara Frosches als über menschliche Musik.

MODERATION

Geoffrey Miller betont mehrfach, wieviel Forschung es noch bedarf, um eine evolutionäre Theorie der Musik zu begründen.

Das liegt offenbar auch am Gegenstand selbst. So ist z.B. in dem von Eckhard Voland mit-herausgegebenen Band "Evolutionäre Ästhetik" die Musik gar nicht vertreten.

ECKHART VOLAND

Von allen Künsten, die untersucht werden, ist nach meiner Wahrnehmung und nach der Wahrnehmung von anderen Fachkollegen, Musik die schwierigste, die sperrigste. Ich will Ihnen auch sagen, warum.

Für die Argumentation, wie sie Miller vorschlägt und wie wir sie auch vertreten - in der groben Form jedenfalls - ist noch ein weiterer Schritt notwendig, um das Gesamtbild plausibel zu machen. Dieser Schritt besteht darin, Korrelate zu finden. Also einen Zusammenhang zu finden zwischen den Qualitäten, die man sucht, die man wählt. Nehmen wir mal den einfachen Fall: ein wählendes Weibchen, also in unserem Falle eine Frau, sucht bei einem möglichen Partner und dem, was er an Schau anzubieten hat. Also, was ist das eigentlich, was die Güte, die phänotypische oder die genotypische Güte eines Individuums ausmacht, der fantastisch Musik produzieren kann? Dieser Zusammenhang ist nach wie vor nicht verstanden.

Es gibt einige Hypothesen, die sagen: es könnte vielleicht was zu tun haben mit Langlebigkeit. Es könnte vielleicht was zu tun haben mit einer allgemeinen Intelligenz und und und. Also eine Reihe von Hypothesen existieren durchaus auf dem Markt. Aber sie müssen erst sorgfältig geprüft werden, bevor man hier weiterkommt; von daher ein grosses Rätsel nach wie vor. Die Perspektive scheint plausibel, aber im Detail weiss man halt noch nicht wirklich gut Bescheid.

GEOFFREY MILLER

Psychologie und Verhaltenswissenschaften konzentrieren sich sehr stark auf mentale Erkrankungen und auf ihre Heilung, auf bedeutende soziale Probleme wie Krieg oder Armut. Sie übersehen dabei die schönen Dinge des Lebens: Kunst, Musik, Literatur, Glück, Sex.

Erst seit neuestem gibt es eine Bewegung der positiven Psychologie, die die angenehmen Seiten des Lebens herausstellt. Aber selbst in diesem Sektor ist Musik noch ein unbeschriebenes Blatt.

Lektüre

Geoffrey F. Miller: Evolution of Human Music through Sexual Selection

oder in

Nils L. Wallin, Björn Merker, Steven Brown (ed): The Origins of Music, MIT Press, Cambridge, 2000

Eckart Voland: Grundriss der Soziobiologie, Spektrum, Heidelberg/Berlin, 2000