Texte

Absturz oder Chance?

Jazzlabels im Zeitalter des Internet
SWR2, 18.06.2015

Rhythm Changes - Jazz beyond Borders

Bericht von einer Konferenz in Amsterdam
WDR 3, 19.11.2014

Jazz in Essen

Ein persönlicher Blick von aussen*

„Jazz in Essen“.
Für mich als gebürtigen Essener ... nahezu ein Nicht-Thema.
Selbstverständlich ist mir die Konzertreihe bekannt, ich habe gelegentlich im Radio auf einzelne Termine hingewiesen, das tue ich auch heute noch auf jazzcity.de.
Aber, außer dass ich die beiden Kuratoren kenne, verbindet mich wenig mit „Jazz in Essen“.
Als die Reihe 1984 startet,  war ich nämlich schon 15 Jahre fort. Jazz habe ich zudem nicht in meiner Geburtsstadt entdeckt, sondern in meiner langjährigen Wahlheimat, in Köln.
Daran ist Essen nicht schuld.
In dem Alter, in dem man heute seiner Jazz-Initiation heute vor Ort nachgehen kann, mit 16, 17 oder 20 (beispielsweise bei „Jazz in Essen“, in der Philharmonie Essen, beim Festival der lokalen Musiker, JOE), in diesem Alter waren wir Mitte der 60er vollends ausgelastet damit, die Beatmusik auseinander zu halten.

Aber, ich habe zugesagt, anlässlich „30 Jahre Jazz in Essen“ zu schreiben. Ich werde den Fokus aufziehen und die Anführungszeichen fallen lassen:
Jazz in Essen.
Das Thema war mir immer ein Mysterium. Deshalb interessiert es mich.
Auffällig schon die Tempuswahl: wenn von Jazz in Essen die Rede ist (und Rock sollte man vielleicht nicht ausklammern), dann gerne in der Vergangenheitsform.
Ja, was können denn auch die jeweiligen Gegenwarten schon ausrichten gegen den langen Schatten der  Essener Jazztage, 1959-61? Gegen den ewigen Schatten der Essener Songtage, 1968?  Die Schatten auch der drei Pop- und Bluesfestivals in der Grugahalle, ab 1969? Und wenig später, „German Television proudly presents“, der Rockpalast-Nächte am selben Ort, 1977-1986?

Essen bleibt Jazzhochburg
Michael-Kaufmann
Als 2004 der Gründungsintendant der Philharmonie Essen, Michael Kaufmann, mit diesem Slogan das Jazzangebot der neuen Institution anpreist, klingt das nass-forsch, mindestens verwegen. Im Grunde aber brachte er damit die Essener Jazz-Nostalgie auf den Begriff. Und wurde belächelt.
Denn Kaufmann kam aus Köln und musste wissen, dass am Rhein, wo die Verhältnisse nun wirklich ganz anders zum Tanzen gebracht werden, zu diesem Zeitpunkt die Einsicht reifte, den Titel der deutschen Jazzhochburg - auch der vielen Abgänge wegen - längst an die Hauptstadt verloren zu haben.
„Essen bleibt Jazzhochburg“.
Unter falscher Überschrift setzte Kaufmann den Jazz in der Philharmonie Essen dann gleichwohl in ein Recht, wie es der Gattung in der Philharmonie Köln, wo er das Intendantenhandwerk gelernt hatte, schon lange nicht mehr vergönnt war.
Uri Caine, Dave Douglas, Carla Bley als „artists in residence“ gleichberechtigt je einem Vertreter der abendländischen Fraktion gegenübergestellt - undenkbar in Köln. Drei Tage Vienna Art Orchestra en suite, Wiederaufführung von Carla Bleys „Escalator over the Hill“, dazu Künstlerhonorare, die die Veranstalter ringsum alarmierten - der Start der Philharmonie Essen als ein Standort des Jazz war fulminant.


Johannes BultmannKaufmanns Nachfolger, Johannes Bultmann (2008-2013), trat zunächst als nämlicher in Aktion - als nüchterner Kaufmann.
Er nahm der Sache die Spitze (die Institution artist in residence: „schöne Idee“, habe aber „im Verkauf nichts gebracht“), senkte Konzertfrequenz („Auslastung zu gering“) und Eintrittspreise. Mit dem Ergebnis, dass inzwischen an den Jazz-Konzertterminen der Philharmonie Essen häufig ein Schildchen hängt, das in der deutschen Jazzszene aus der Mode gekommen ist: „ausverkauft“.
Bultmann, heute in Baden-Baden Leiter der SWR-Klangkörper, betont, durch diese Maßnahmen (darunter auch ein früherer Konzertbeginn) sei es gelungen, das Jazzpublikum in der Philharmonie Essen zu vergrössern wie sonst nur noch das der Alten Musik.


„Ausverkauft“ für ein Jazzkonzert in der Philharmonie Essen heisst, dass von 340 Sitzen 270 durch Abonnenten belegt sind; das entsprechende Abo 12 kostete in der Saison 2013/2014 für 8 Konzerte 118 Euro, macht 14,75 Euro pro Termin (in der kommenden Saison wird der Abo-Preis auf 130 Euro steigen). 14,75 Euro, dafür bekommt man nirgends sonst einen Enrico Rava oder gar einen Wayne Shorter (wozu die Reihe dann aus dem RWE-Pavillon in den Alfried Krupp-Saal ausweicht).
katharina-strein-2Die faktische Arbeit am Jazzprogramm der Philharmonie Essen obliegt, schon unter Bultmann, Katharina Strein aus dem künstlerischen Betriebsbüro.
Sie ist programmlich, ganz im Gegensatz zur landläufigen Erwartung, wenig von der neo-romantischen Temperatur ergriffen, die heute viele Herzen wärmt mit einem „Jazz für Leute, die Jazz nicht mögen“. Nein, crossover Projekte in Richtung Klassik sind „nicht Schwerpunkt“, für die kommende Saison hat sie z.B. ein Projekt um Bugge Wesseltoft geplant, „im Grenzbereich zwischen Electro und Jazz“.


Die inhaltlichen Schnittmengen zwischen Jazz in der Philharmonie und „Jazz in Essen“ sind erstaunlich/erfreulich gering.
Klostermann B1Ja, wenn Berthold Klostermann, der ja nun wirklich seine Pappenheimer kennt aus Jahrzehnten, Jazz in der Philharmonie besucht, erkennt er nur wenige aus seiner Grillo-Kundschaft wieder. Das Publikum dort, ergänzt Katharina Strein, sei „tendenziell jünger“ (näheren Aufschluss mag vielleicht im Herbst eine Studie im Auftrag der TuP liefern).
Was Klostermann und vor ihm Peter Herborn bei „Jazz in Essen“ bieten, zunächst im Jugendzentrum, dann im Museum Folkwang und seit 1992 im Grillo Theater, brennt nicht wie die Strohfeuer der Historie. Es ist allernötigste Grundversorgung. Mit einem halben Dutzend Terminen pro Jahr halten sie die Fiktion aufrecht, Essen sei eine große Stadt; auf dass die hiesigen Jazzfans nicht immer nach Dortmund und Köln fahren müssen, wenn sie die Großen & Wichtigen des Genres erleben wollen.


Peter-HerbornDenn bevor mit Peter Herborn endlich ein bedeutender Jazzmusiker aus der Stadt kam und eine Entwicklung lostreten konnte, die über „Jazz in Essen“ hinaus 1988 in einem Studiengang an der Folkwang Universität kulminierte, also vor 1984, entsprach das Jazzleben in Essen keineswegs dem nominellen Status der Stadt als fünftgrößter der Bundesrepublik. Es war sporadisch und sprunghaft, es war eine Wüstenei. Herborn nennt es im Jazzatlas Ruhr 2010 „ein diskrepantes Spiel“.

Wer nun die Annalen von „30 Jahre Jazz in Essen“ durchblättert, muss Herborn & Klostermann lexikalisches Format zubilligen. Wahnsinn! wer im Grillo, Folkwang und JZE zu Gast war:
Ornette Coleman (1988), Zawinul sowieso (2007), Art Blakey gleich zweimal (1987, 1989), Sun Ra (1988), Jimmy Giuffre mit Paul Bley (1993), Wayne Shorter (1995), Cassandra Wilson (1989), John Scofield, Dave Holland und Jack DeJohnette mehrmals, auch Esbjörn Svensson (2001) - ja, am Rande auch ein paar, von denen heute keiner mehr spricht. Wie gesagt: Grundversorgung.
Geradezu legendär der Auftakt am 30. März 1984: Steps Ahead  mit Michael Brecker. Im Vorprogramm, wie eine Zeitlang üblich, deutsche Jazzmusiker, beim Debüt waren es Theo Jörgensmann und Georg Gräwe (die sich damals bestimmt als ebenbürtig betrachteten).


Georg GraweDass Gräwe 2014 der Jazzpott verliehen wird, wiederum im Grillo, zeichnet einen wunderbaren Bogen der Kontinuität.
Er ist zwar nicht der Große Sohn der Stadt, sondern der Nachbargemeinde Bochum, er unterrichtet auch nicht an Folkwang, sondern in Berlin, wie Peter Herborn zieht es ihn mächtig zu alt-europäischen Formaten der Musik, als da sind Opern, Orchesterwerke, Kammermusik.
Georg Gräwe gehört zu den wenigen, die von „Ruhr 2010“ profitiert haben.
Thomas Hufschmidt hat bestimmt nichts gegen Georg Gräwe, im Großen und Ganzen aber, sagt er, habe 2010 für die Jazzszene nichts gebracht, er spricht von „peinlich“ und „fast kontraproduktiv“. Hufschmidt, 58, gehörte wie Herborn Anfang der 80er zur Gruppe Noctet, einer Keimzelle für das spätere Lehrpersonal des Jazzstudienganges an Folkwang, er unterrichtet dort im Professorenrang Jazzpiano. Ich treffe ihn bewusst dort, wo Essen ganz traditionell, von mir aus auch „spießig“ ist, im Cafe Overbeck.
Schräg gegenüber liegt die Lichtburg, das größte Kino Deutschlands, darin die Filmbar, wo JOE jeden Donnerstag um 21 Uhr eine Jazz-Session veranstaltet. JOE ist  die Jazz Offensive Essen e.V., gegründet 1995, unter den Mitgliedern viele Studenten und Alumni der Folkwang-Jazzstudiengänge.
Eine solche Session ist der Platzhalter für das zentrale Ziel einer jeden lokalen Jazzinitiative: ein eigener Jazzclub.
Essen hat keinen Jazzclub (auch das legendäre „Podium“ unter der früheren Metzgerei Guyenz in der Kastanienallee ließ sich kaum so charakterisieren). Kurz vor 2010 blitzte für einen Moment die Chance dafür auf, am Hbf - seitdem lebt der Traum fort.
Das prominenteste outlet von JOE aber ist das „JOE Festival“ in Rüttenscheid, im Katakomben-Theater, 2014 schon zum 19. Mal. Dort trifft man eher die Kleinen und Großen der Avantgarde als in der Philharmonie oder im Grillo. Nicht zu vergessen das „free essen festival“ im Goethe-Bunker, ebenfalls assoziiert mit JOE, das noch einmal in die Avantgarde verzweigt.
Selbst meine alte Heimat Borbeck, das Schloss Borbeck, das wir nur von außen kannten, vom Schlitten aus oder vom Joggen, ist seit 2000 aufgeschlossen für Jazz. Die WDR Big Band kommt jährlich, Charlie Mariano (1923-2009) war zweimal da, Thomasz Stanko und Marcin Wasilewski auch - das Programm in Residenz- und Schlosssaal mutet neben Alter und Kammermusik an wie eine Philharmonie im Kleinen. Das Programm kommt aus der Innenstadt, von Dr. Bernd Mengede, dem Leiter des Kulturbüros Essen, zugleich Institutsleiter des „Kulturzentrums Schloß Borbeck“.
Die historische Zweiteilung der Stadt (durch die Bahnlinie) ist ihm vertraut, das Süd-Nord-Gefälle, wie es kürzlich wieder bei einem Kenner des Reviers anklingt (Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“, Köln, 2012). Aber bei 600 Hochzeiten im Jahr und der Bewegung durch die zahlreichen Schüler der Folkwangmusikschule, die in einem Nebengebäude unterrichtet werden, kann Mengede keinen drosselnde Wirkung durch die historische Zweiteilung auf die Zuhörerschaft  erkennen.
Ganz im Gegensatz zu Kornelia Vossebein.  Als Geschäftsführerin der Zeche Carl gehört sie ebenfalls zu den Jazz-Anbietern im Essener Norden. Obwohl die U 11 potenzielle Interessenten bis fast vor die Tür fährt, bleibt das Publikum aus dem Essener Süden aus.  Altenessen ist und bleibt ein schwieriger Standort für Jazz. Nachdem das Gebäude für zwei Jahre wegen Renovierung ausfiel, will Vossebein in Zukunft vorsichtig im Essener Jazzleben wieder mitmischen.
Das Kulturbüro will sie, die freien Anbieter, sowie die städtisch-institutionellen in einer Art konzertierten Aktion zusammenführen. Erst sind die klassischen Genres dran, der Jazz folgt später.
Das wäre hilfreich. Denn, Jazz in Essen - die Lage ist wirklich besser als der Ruf. Es besteht überhaupt kein Grund, einen Blues anzustimmen (die meisten verstehen darunter nur den Trauer-Blues, fälschlicherweise; sie vergessen dabei das schöne Gegenteil, den Protzer-Blues, insbesondere den Sexualprotzer-Blues, obwohl sie alle ihn schon gehört haben).
Warum nur fällt mir zum Abschluss Franz Müntefering ein? Wie würde er die Sache auf den Begriff bringen?
Neulich erst hat er - natürlich in einem völlig anderem Zusammenhang - angeraten, „die lange Strecke“ sich anzugucken.
Die lange Strecke - das wäre in diesem Falle „Jazz in Essen“.
Also nun der Münteferingsche Dreiklang:
„Jazz in Essen. Gar nicht so schlecht. Besser als man denkt. Glück Auf!“


*Beitrag für Festschrift "Jazz in Essen. Eine Konzertreihe wird 30",
herausgegeben von der Theater und Philharmonie Essen GmbH
Redaktion: Dr. Berthold Klostermann
März 2014

 ©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

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