Das große Rätsel - Der Soft Machine-Keyboarder Mike Ratledge wird 80

DLF Milestones, 19.05.23

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In den heutigen „Milestones“ geht es paradox zu: es geht um einen Musiker, von dem seit 47 Jahren kein Ton mehr zu hören gewesen ist, der als künstlerisch wertvoll gelten könnte.
Mit anderen Worten: es handelt sich um eine historische Größe, der Mann ist aber bis heute Kult.. Vor allem bei facebook.
„Das große Rätsel - Der Soft Machine-keyboarder Mike Ratledge wird 80“.
Am Mikrofon ist Michael Rüsenberg.

01. SOFT MACHINE Facelift (Intro), ca. 3:00
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MODERATION (overvoice nach 3:00)

Soft Machine. Mike Ratledge.
Diese drei Minuten führen an den Kern des Kults: das Intro des fast zwanzigminütigen Stückes „Facelift“, live mitgeschnitten im Januar 1970,
unterlegt mit Nachbearbeitungen aus dem Studio.
Mit „Facelift“ beginnt „Third“, das dritte und für viele - inklusive Ratledge selbst - wichtigste Album von Soft Machine.
1970. Das ist die Zeit kurz vor der Elektronik, vor dem Synthesizer. „Keyboards“ bedeutete damals: Piano und/oder Orgel. Und niemand bediente letztere so wie Mike Ratledge.
Er saß nicht an der weit verbreiteten Hammond B3, sondern an einer Lowrey-Orgel; mittels Verzerrer zu einem Klangbild geformt, das ein heller Kopf einmal - zutreffend - als Wespe im Gehirn-Sound getauft hat.
Das ist die technische Seite; und durchaus verwandt klang es wenig später bei David Sinclair (Caravan) und Dave Stewart (Egg, National Health).
Mike Ratledge aber spielt das Instrument mit einem eigenen Sinn für Dramatik; geräuschhaft, mit Cluster-Akkorden, mit saxophon-artigen Linien; nicht zu vergessen das damals beliebte Wha Wha-Filter.
Das Attribut scheint berechtigt: eine Klang-Ikone.

02. SOFT MACHINE Facelift (Schluss), 1:28
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Und so schließt das Stück, mit dem das dritte Album von Soft Machine 1970 beginnt: mit dem Thema von „Facelift“, das man im Studio einfach noch mal rückwärts laufen lässt.
Solche „rückwärts“ laufenden Klänge, häufig als loops, waren ein beliebtes Stilmittel von Mike Ratledge. Und Soft Machine.

03. SOFT MACHINE As long as he lies perfectly still, 2:34
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Frühjahr 1969, Soft Machine produzieren ihr zweites Album in London.
Sie erfüllen einen Vertrag. Nach einer desaströsen Amerika-Tournee im Vorprogramm von Jimi Hendrix hätten sie sich am liebsten getrennt.
Ein erheblicher Zugewinn ist der neue Bassist Hugh Hopper (1945-2009); er schreibt einige charakteristische Stücke für das Trio, u.a. „Facelift“.
Robert Wyatt, Schlagzeuger und Sänger, ist nach wie vor dabei sowie Mike Ratledge.
Er ist zwei Jahre älter als die beiden, sie alle kommen aus Canterbury.
Michael Roland "Mike" Ratlege, geboren am 6. Mai 1943, stammt aus einem Akademiker-Haushalt, der Vater ist Schuldiektor.
Mit Hoppers älterem Bruder Brian spielt Mike klassische Musik.
Gleichwohl studiert er nicht Musik, sondern Psychologie und Philosophie in Oxford. Und, hätte er nicht den Antrag für ein Literatur-Stipendium in den USA verpasst, wäre er - wer weiß? - niemals Profi-Musiker geworden.
So jedenfalls kann man es einem Interview mit Hugh Hopper entnehmen:

ZITAT HUGH HOPPER
Hugh Hoppe pic
Ich glaube, dass er rein zufällig zu Rock und Jazz gekommen ist, denn er hatte mit klassischem Klavier begonnen und sich erst während seines Studiums in Oxford für Jazz interessiert - Cecil Taylor, Bill Evans...
Wie die meisten klassisch ausgebildeten Pianisten mochte er Musik, die streng den Regeln der Harmonie folgt. Die meisten Musiker von Soft Machine aber waren intuitive Chaoten.
Es war Roberts Idee, ihn zu fragen, ob er bei Soft Machine mitspielen wolle, aber nach einer Weile hasste Mike es, mit Robert zu spielen, und sie kamen auch persönlich nicht miteinander aus.
Als ich dazukam, war Mike schon gelangweilt, er wollte nicht mehr mitmachen. Es sollte nur ein Album werden - sie hatten sich vertraglich verpflichtet, noch ein zweites zu machen - und das wär´s gewesen. Aber dann mussten wir natürlich ein paar Gigs spielen, um Werbung zu machen, und das Ganze fing wieder von vorne an... In den vier Jahren, in denen ich in der Band war, war Mike unglücklich.
Es gab eine kurze Phase, nachdem Elton dazukam, wo Mike es zu genießen schien, mit ihm live zu spielen, aber das hielt nicht lange an... Er war einfach nicht am richtigen Platz in dieser Band.
Was nicht heißt, dass wir nicht exzellente Musik zusammen gespielt haben - Konfliktsituationen bringen manchmal interessante Dinge hervor...

 

04. SOFT MACHINE Orange Skin Food, 1:47
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„Orange Skin Food“, aus dem Soft Machine-Album „Second“.
Das Stück verrät bereits einen gewissen Jazz-Einfluss, die Saxophon-Parts werden von einem Gast gespielt, von Brian Hopper.
Den Ausschnitt, den wir davor gehört haben, „As long as he lies perfectly still“, kann man - vor allem wegen seines 7/4-Taktes - noch als ProgRock
charakterisieren.
Mit „Third“ im Frühjahr 1970 erweitert sich das Kerntrio um vier Bläser und vollzieht einen deutlichen Schwenk in Richtung Jazzrock. Es nimmt dort einen ganz eigenen Standort ein, stark unterfüttert auch von Minimal Music.
„Third“ prunkt geradezu mit vier eindrucksvollen Kompositionen, darunter zwei von Mike Ratledge.
Zunächst „Slightly all the Time“: eines seiner großen Charakterstücke, mit den wiederum für ihn typischen ungeraden Metren, hier 11/8 und später 9/4. Dazu leidenschaftliche Soli von Elton Dean (1945-2006), Altsaxophon und Saxello, sowie Ratledge selbst an der Orgel - selbstverständlich verzerrt.

05. SOFT MACHINE Sligthly All the Time (Ausschnitt) 12:15
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„DLF MILESTONES. Das große Rätsel - Der Soft Machine-Keyboarder Mike Ratledge wird 80“.
Und das Rätsel - eigentlich sind es mehrere - lässt sich recht genau datieren: nur im Zeitraum von „Third“, also um 1970, sagt er später in einem Interview, habe er sich bei Soft Machine wohlgefühlt.
Gleichwohl hält er noch fast 6 Jahre durch.
Hier zeigt sich das seltene, kunst-ästhetisch hoch-interessante Phänomen, dass ein Künstler seine Arbeit völlig anders als seine Fans bewertet - oder sollten wir heute sagen: „follower“? -; hier vollzieht sich modellhaft die Loslösung der Rezeption von einem Künstler.

ZITAT MIKE RATLEDGE
Ich habe mich nie als Teil der englischen Jazzszene gefühlt, und je mehr wir diese Art von Musikern in die Band aufnahmen, desto mehr unterschied ich mich von ihnen, vor allem, weil mir das Komponieren sehr wichtig war und der Jazz zu dieser Zeit sehr improvisiert und anti-Komposition war.

cover bennett


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Das Resultat sind Konflikte, ästhetischer und sozialer Natur - mit manchmal verblüffenden Resultaten.
Graham Bennett charakterisiert sie 2005 in seiner lesenswerten Soft Machine-Biografie:

ZITAT GRAHAM BENNETT

Das ist das Paradoxe an Soft Machine: eine Band, die sich den größten Teil ihrer Geschichte entweder im Bürgerkrieg befand oder in einem unruhigen Waffenstillstand schwelte - und dennoch eine Band, die innovative Musik produzierte, von der ein Großteil immer noch inspirierend wirkt.

 

 

 

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Im August 1971 verlässt Robert Wyatt die Band, man kann auch sagen: er wird herausgemobbt.
Kurzzeitiger Nachfolger wird der aus dem FreeJazz stammende, australische Schlagzeuger Phil Howard, für ein paar Konzerte und die Hälfte des Albums „Fifth“.
Und dafür schreibt Mike Ratledge das mit Abstand jazz-artigste aller seiner Stücke, dem er als langes Intro etwas völlig anderes vorschaltet:
seine Verehrung für Minimal Music a la Terry Riley: „Drop“.

06. SOFT MACHINE Drop 7:49
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„Soft Machine Fifth“, produziert im Winter 1971/72.
Soft Machine Bundles

Kurz darauf stößt Karl Jenkins zu der Band, Pianist und Holzbläser, ehemals Nucleus. Er wird in den Folgejahren wortwörtlich Ton-angebend.
Und dies mit ausdrücklicher Billigung von Mike Ratledge.
Allerdings gelingt kein Album mehr, das an den Status etwa von „Third“ anschließen konnte. 
Soft Machine mutiert zu einer „ganz normalen“ Jazzrock-Band.
Das achte Album, „Bundles“, im Juli 1974, wird Ratledges letztes.
U.a. komponiert er eine Ballade, die die mehrfache umbesetzte Band auch heute noch im Repertoire hat:
„The Man who waved at Trains“.

 

07. SOFT MACHINE The Man who waved at Trains, 1:50
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Im Frühjahr 1976 macht Mike Ratledge einen Schritt, von dem er später sagt, er hätte ihn schon drei oder vier Jahre früher tun sollen: er verlässt Soft Machine.
Aus dem öffentlichen Musikleben blendet er sich langsam aus; im Studio aber bleibt er lange Zeit Karl Jenkins verbunden. Einmal in einem Projekt von dessen - heute sagt man - „Neo-Klassik“. 
Aber ganz überwiegend - und hier kommt das größte Rätsel, das nicht nachvollziehbare Paradox des Mike Ratledge - überwiegend auf dem Sektor „Werbemusik“.
Ich habe mir erlaubt, ein Zitat von ihm mit einer dieser „Musiken“ zu unterlegen.

08. MIKE RATLEDGE Mannheim ´79, (unterlegt)
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ZITAT MIKE RATLEDGE
Ein Teil des Problems mit Soft Machine war, dass man sich völlig in einem bestimmten Stil gefangen fühlte. Es war eine ziemliche Erleichterung, in die Werbemusik einzusteigen, wo es möglich ist, in einer großen Bandbreite von Stilen zu arbeiten. Etwa eines von drei Projekten ist interessant.
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Am 6. Mai 2023 wurde Mike Ratledge achtzig.
Ob er gefeiert hat, weiß ich nicht. Ich weiss wohl - und habe es von Mittelsmännern erfahren -, dass er an öffentlichen Huldigungen keinerlei Interesse hat.
Dem Vernehmen nach lebt er nach wie vor im Londoner Vorort Islington.
Das letzte öffentliche Foto von ihm erschien 2018 auf Instagram, gepostet vom amerikanischen Gitarristen Gary Lucas, nach einem Restaurantbesuch in London.
Lucas wollte unbedingt den Partygast besuchen, der ihm in den Vorjahren in New York auf Neujahrs-Feiern wiederholt aufgefallen war.

Gary Lucas Mike Ratledge Twitter 2020

 


ZITAT GARY LUCAS

Jedes Jahr tauchte dieser große, dünne, ruhige Kerl auf, saß ganz still da, sagte nicht viel und lächelte nur. Schließlich, bei seinem zweiten Besuch auf der Party meines Freundes, flüsterte Mark mir zu:"Du weißt, wer das ist - das ist Mike Ratledge!
Erwähne ihm gegenüber nur nichts von Soft Machine, er redet nicht gerne darüber."
Natürlich stellte ich mich vor und erzählte ihm, dass ich mir gerade einen YouTube-Clip angeschaut hatte: Soft Machine live im Olympia in Paris im Jahr 1967, zusammen mit Jimi Hendrix.
Er lächelte, bekam einen verträumten Ausdruck in den Augen und sagte: ´I remember the Olympia!´
Er war ganz locker, das war schön.

(per e-mail, 16.04.23)
Foto: London, Covent Garden, 2018
Foto: Gary Lucas, Instagram

 

 

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„DLF Milestones. Das große Rätsel - Der Soft Machine-keyboarder Mike Ratledge wird 80“.
Die Sendung schließt mit einem seiner großen Charakterstücke, mit „Out Bloody Rageous“, aus dem Album „Third“, 1970.
Und - selbstverständlich - in einem ungeraden Rhythmus sowie mit „Wespe im Gehirn“-Sound.
Am Mikrofon war Michael Rüsenberg.

08. SOFT MACHINE Out bloody rageous
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