Michael Rüsenberg im Gespräch mit der Pianistin Marlies Debacker, Köln, 23. September 2024
„Eine innere Vorstellung von Klang…“
Ich möchte mit den klassischen Fragen anfangen, biographisch: du bist belgische Staatsbürgerin, gleichwohl in der Schweiz geboren (1992), aber gleich nach der Geburt mit den Eltern nach Belgien gezogen. Wo bist du aufgewachsen?
Ich bin in Lier groß geworden. Das ist eine Kleinstadt in der Nähe von Antwerpen, und später, mit zwölf, bin ich umgezogen nach Heist-op-den-Berg, eine Gemeinde 30 km von Antwerpen entfernt. Kurz vorm Studium bin ich nach Antwerpen selbst gezogen. Da habe ich dann insgesamt sechs Jahre gewohnt.
Studium ist ein gutes Stichwort. Bachelor und Master; Bachelor in Antwerpen, in welchem Fach?
Ich habe tatsächlich beides studiert. Ich habe mit Jazzklavier angefangen und ein klassisches Studium dann kurz danach absolviert. Meine Ausbildung ist eine klassische. Ich bin dann im Alter von 15 immer mehr Richtung Jazz gegangen, habe mich eine Zeit lang sehr intensiv damit beschäftigt, habe dann aber gemerkt, dass ich ohne das klassische Klavierspielen nicht auskommen konnte und habe das dann auch noch mal intensiviert im Studium in Antwerpen. Für Master bin ich dann tatsächlich nach Köln gekommen.
Der Bachelor in Antwerpen. Was war das?
Jazz und Klassik, also zwei Bachelors. Und dann Köln. Ich bin über Erasmus, über so ein Austauschstipendium nach Köln gekommen, habe dann nach einem halben Jahr gemerkt, dass ich nicht mehr zurückgehen wollte, so wie es vielen halt geht in Erasmus. Habe einfach gemerkt, die Szene, die Musik, die hier läuft, die Projekte, die ich hier aufbauen konnte, dass ich das nicht so einfach wieder loslassen wollte. Bin dann über ein Masterstudium noch in Köln geblieben. Und das war tatsächlich ein Master in Improvisation, bei Paolo Alvares. Dann habe ich mich in der Zeit sehr intensiv mit Neue Musik, auch mit Repertoire beschäftigt und gemerkt: das möchte ich mich auch noch mal richtig vertiefen. Nach dem Master in Köln habe ich tatsächlich noch einen Master in Neue Musik in Essen gemacht, an der Folkwang Universität der Künste bei Benjamin Kobler. Das ist der Pianist von Ensemble Musikfabrik und Professor Barbara Maurer, eine Bratschistin, die über 30 Jahre mit Ensemble Recherche gespielt hat. Danach habe ich mit meinen eigenen Trio Abstrakt, was spezialisiert ist in Neuer Musik, aber eher Kammermusik, noch ein Konzertexamen gemacht, ebenfalls bei Barbara Maurer. Da ging es dann wirklich um um die Vertiefung,, zeitgenössisches Repertoire auf die Bühne zu bringen.
Nun könnte man erwarten, angesichts dieser Vita, die ja tendenziell klassisch- und Neue Musik ausgelegt ist, viel mehr als Jazz, dass da eine Zukunft hätte anstehen können im Bereich der Ensembles oder im Bereich auch der Orchestermusik. Also irgendwo, sagen wir mal eine Festanstellung.
Ach, wirklich? Festanstellung in Richtung Orchester, das ist was, was mich nie so besonders interessiert hat. Meine Arbeit liegt ja genau darin, dass ich sowohl sehr viel Improvisierte Musik spiele und meine eigene Musik, aber auch als Interpretin tätig bin in Ensembles. Da war mir ziemlich früh klar, dass genau diese Kombination aus den beiden mir sehr wichtig ist. Ich habe ich auch ziemlich früh festgestellt, dass freischaffende Künstlerin zu sein, eigentlich genau das Richtige ist.
Kommen wir zu der Gretchenfrage oder zum Elchtest, wenn man so will. Wir führen das Gespräch im Hinblick auf eine Sendung im Deutschlandfunk, die heisst Jazz Facts. Das wird dich nicht überraschen. Aber die Hörer werden überrascht sein, dass das weit aus dem Jazz – auch im weitesten Sinne – herausführt. Ich will mal die beiden Spannungsfelder, die beiden Enden der Fahnenstange, jeweils beleuchten oder benennen. Du bist einerseits auf der Jazzseite Nica Artist 2023. Das ist eine Auszeichnung, die für Jazz und Improvisierende Musiker hier im Stadtgarten Köln ausgegeben wird. Du hast am Jazzfest Berlin 2023 gespielt. Du hast gerade in Gent spielen, in einem Theaterprojekt von der Frau Keersmaeker, Steve Reich „Music for 18 Musicians“. Das hat nun mit Jazz nüscht zu tun. Du hast Feldman gespielt, Apergis, ich habe dich Cage interpretieren gehört. Hat nicht mit Jazz zu tun. Du bist Stipendiatin, zumindest für ein Projekt, der Deutschen Orchesterstiftung. Wie passt dein Selbstverständnis, deine musikalische Praxis zu Begriffen wie JazzFacts oder überhaupt Jazz.
Tatsächlich habe ich sehr viel Jazz gespielt. Also ich komme schon aus der Tradition. Ich habe auch wirklich traditionelle Jazz-Swingmusik viel gespielt. Ich habe in Bigband gespielt, ich hatte mein eigenes Trio, habe aber immer mehr die Tendenz gemerkt, dass ich Richtung Freie Improvisation gehen wollte. Und auch mit dem Umug nach Köln habe ich dort einen stilistischen Anschluss gefunden, der mir noch nicht so klar war. Und der geht halt eben auch sehr in die Richtung der Ästhetik von der Neuen Musik. Für mich ist es oft eine sehr ähnliche oder gleiche Musik. Es ist eine Musik, die sich mit den Klängen von heute beschäftigt, und sowohl in komponierter als auch in Improvisierter Musik kann es durchaus sehr viele ästhetische Schnittstellen geben. Nichtsdestotrotz war die Ausbildung im Jazz sehr, sehr wichtig für mich und sehr prägend, weil man aus einer klassische Ausbildung erst mal nicht so viele Berührungspunkte mit Improvisieren an sich hat; überhaupt Musik aus dem Moment gestalten, ohne Vorgaben. Und da würde ich sagen, dass meine ersten Anfänge sicher aus dem Jazz-Background kommen.
Wenn ich deine Musik höre – und ich habe sie in ziemlicher Breite gehört -, da würde ich sagen: das ist alles ohne jeden Jazzbezug erklärbar. Es ist vielleicht eine biographischer Fakt, dass du mit Jazzpiano begonnen hast. Du hast vielleicht auch mal rhythm changes gespielt in grauer Vorzeit, obwohl du erst 32 Jahre alt bist. Aber wenn man deine Musik hört, hört man Improvisation. Aber es ist eine völlig andere als Jazz-Improvisation. Die Brücke dorthin ist ja rein begrifflicher Art, denn die Jazz-Improvisation handelt ja mit ganz anderen Voraussetzungen und anderen Zielen als die Improvisation, in der du tätig bist. Das ist jetzt mein Vorverständnis, und aus diesem folgt auch meine nächste Frage. Ich verstehe Improvisation als einen Umgang mit dem, was man noch nicht kennt oder was als nächstes folgt, was man noch nicht berechnen kann – das Ungewisse. Inwiefern spielt in dem Sinne Improvisation (Umgang mit dem Ungewissen für den nächsten, unbekannten Moment) bei dir eine Rolle?
Eine sehr große. Also ich finde erstens kompositorisches Denken trotzdem sehr, sehr wichtig als Improvisatorin. Das hat aber viel mehr mit Vorbereitung zu tun oder mit mit der Reflexion oder wie möchte ich meine Musik gestalten? Was sind meine Klangwelten? Was ist mein Material? Zu welchen Formen tendiere ich? Und gleichzeitig ist diese Performance, also das Spielen auf der Bühne ist natürlich ein kompletter Sprung ins kalte Wasser, und das ist für mich ein sehr, sehr wichtiger Aspekt von improvisierte Musik ist, dass ich vorher nicht weiß, was da passieren wird.
Natürlich habe ich mein Material, wozu ich tendiere. Meine persönliche Klangsprache ist natürlich sehr, sehr wichtig für die Gestaltung, aber deswegen bleibt das Improvisieren, das aktive Improvisieren für mich als Künstlerin auch so wichtig, weil es mir immer wieder in Richtung bringt, wo ich sonst nicht gedacht hätte, dass ich da hinkomme, weil es sich alles aus dem Moment und aus dem Improvisieren ergibt. Und das besonders Schöne ist natürlich auch, es gibt einerseits das Solo-Improvisieren, wo ich komplett alleine verantwortlich bin, für was geschieht. Aber das Spannende passiert natürlich, wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen auf der Bühne gemeinsam irgendwas schaffen muss. Und dann wird es vielleicht sogar noch unvorhersehbarer. Und das ist für mich als Musikerin unglaublich wertvoll und reizvoll.
Zum Klang kommen wir noch mal. Ich möchte noch mal bei der stilistischen Taxonomie bleiben. Nach meiner Beobachtung wirst du ja tendenziell mehr in der Jazzszene verhandelt, im Großen und Ganzen betrachtet, als in der Neuen Musik. Möglicherweise ist das eine falsche Vorstellung von mir. Du bist tatsächlich auch jetzt gerade in Gent und Brügge mit Steve Reich, Music For Eighteen Musicians. Wenn man sagt „Steve Reich“, dann weiß man schon, was dort gespielt wird. Wie ist denn die Proportion aus deiner Sicht? Wirst du mehr in der Jazzszene debattiert und verhandelt als in der Neue Musikszene?
Das mag vielleicht die Wahrnehmung sein, aber ich spiele tatsächlich auch – ich würde sogar sagen – ziemlich halb/halb. Also die Projekte in der Neuen Musik sind schon oft große Projekte, und ich spiele mit meinen eigenen Trio, Trio Abstrakt, auch international, und zwar auf Festivals. Und das sind schon Projekte, die viel Zeit und Energie beanspruchen. Ich würde eigentlich sagen, ich bin ziemlich in der Mitte. Natürlich gibt es Monate, wo es mal viel mehr in eine Richtung geht und dann wieder jetzt. Diesen Monat war natürlich sehr viel Steve Reich mit Ensemble Ictus aus Belgien. Jetzt kommen wieder Projekte mit meinem Trio. Dann kommt tatsächlich wieder Improvisation als Solopianistin, ein paar Konzerte zwischendurch. Ich würde schon sagen, es ist 50:50.
Wenn ich ein letztes Mal bei dieser Frage bleiben darf, würdest du den Eindruck bestätigen, dass eben das Interesse an dir seitens der Jazzszene eben über den Begriff der Improvisation läuft?
Ja, das würde ich so bestätigen. Also natürlich ergeben sich immer mal wieder Projekte, wo es mehr Richtung Jazz gibt oder wo es auch mal komponierte Musik gibt, oder wo man stilistisch eher sagen könnte, es geht Richtung Free Jazz. Kein reiner Free Jazz, aber das passiert natürlich auch. Aber auch wenn ich bei Jazzfestivals spiele, ist es schon immer mit meiner Musik. Das heißt in dem Fall Improvisierte Musik.
Apropos Free Jazz. Ich meine, Free Jazz-Einflüsse gehört zu haben oder Momente, die ich mir auch vorstellen könnte bei Cecil Taylor, nämlich auf deiner Platte „Shimmer“ in den Stücken „Indigo“ und „Split Layered Two“.
Jaaa, so habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Aber Cecil Taylor ist natürlich ein Einfluss. Doch. Also einen klaren, einzigen Einfluss kann ich nicht nennen. Aber es stimmt schon, dass sicher auch auf meine Solo-CD auch Stücke sind, die mehr aus der Richtung kommen oder davon inspiriert sind. Das stimmt.
Dein Instrument ist wir – sprechen mal cum grano salis – das Klavier oder das Piano, in den meisten Fällen der Flügel. Sprechen wir einfach vom Piano. Was bedeutet dir das Piano?
Das Klavier als Instrument – also ich war schon immer begeistert von dem Instrument. Das hat mich eigentlich mit fünf Jahren schon total begeistert, obwohl ich es nicht in der Familie und eigentlich kein direktes Vorbildhatte. Aber das war immer wahnsinnig attraktiv für mich, und das ist sicher so geblieben. Heute sehe ich das Klavier wirklich als ein Instrument, was was einfach Orchestrierung ermöglicht, einerseits mit einer wahnsinnig interessanten Geschichte, einem klassischen Repertoire; ich meine, die Klaviermusik ist natürlich unglaublich. Und andererseits auch die erweiterte Techniken, das inside Spielen, um es mal so zu nennen. Das bietet wahnsinnig viele Möglichkeiten. Und für mich ist – vor allem wenn ich solo spiele – denke ich wirklich über das Instrument wie ein Orchester. Es gibt alle mögliche Klangfarben, von perkussiv bis Streichklänge bis mehr Richtung Blechblasinstrumente fast. Und so höre ich das Instrument, und so spüre ich das Instrument auch, wenn ich spiele.
Was sind deine Hilfsmittel dabei, Deine erweiterten Techniken?
Ja, viele. Also sie jetzt alle aufzulisten, würde ein bisschen weit gehen. Aber einerseits ist auch das, was auf Tasten schon möglich ist, ist schon sehr viel mehr, als was man aus dem klassischen Klavierrepertoire kennt. Und da habe ich mich wirklich sehr, sehr viel mit dem Repertoire, aber auch mit eigener Musik beschäftigt, mit verschiedenen Anschlagtechniken, Pedaltechniken, Resonanzen, das mittlere Pedal zum Beispiel, was dann auch wieder bestimmte Resonanzen sogar ermöglicht, harmonische Resonanzen. Und dann alles, was eben im Innenraum auf den Saiten möglich ist, das ist fast unendlich. Also das geht schon los mit dem Zupfen, was fast schon einen Harfeneffekt hat. Die Basssaiten, die Obertöne, die Flageolets, wo ich mich auch sehr, sehr viel mit beschäftigt habe. Das geht dann im mikrotonalen Bereich hinein. Und dann gibt es noch die Präparationen, also irgendwas auf den Saiten befestigen, damit der Ton glockig klingt. Das sind aber alles zunächst nur Spieltechniken, und Spieltechniken machen noch keine Musik. Das Interessante ist für mich, die Sachen so einzusetzen, dass sie auch einen musikalischen Sinn ergeben, dass es nicht wie Effekt eingefügt wird. Und dann möglichst auch den klassischen Klavierklang, das heißt auf den Tasten gespielt, zu kombinieren mit Klängen im Raumzum Beispiel. Das ergibt dann auch wieder eine ganz neue Welt. So fast schon nach dem Motto „es klingt wie Klavier, aber irgendwas ist komisch“. Das ist eigentlich so ein Bereich, der mich klanglich sehr interessiert.
Wir haben bis jetzt nur über die mechanischen Präparationen gesprochen. Es gibt auch eine elektroakustische oder elektromechanische. Es gibt das E-bow, das inzwischen auch von Gitarristen eingesetzt wird. Klavier ist ja letztlich auch ein Saiteninstrument. Das vergisst man gerne. Das scheint mir aber auch mit zu den neuen und bei dir wesentlichen Klang-veränderungsmechanismen zu gehören.
Das E-bow ist eigentlich eine tolle Technik in dem Sinne, dass es die einzige ist, die auf einem Klavier einen stehenden Ton erzeugen kann. Also es klingt fast wie ein Sinuston, der auch unendlich weiterklingen kann, bis die Batterie eigentlich leer ist. Das E-bow ist natürlich für Gitarre gebaut, lässt sich aber wunderbar auf die Saiten halten im Innenraum des Flügels. Und auch da lässt sich dann wieder einiges manipulieren oder verstimmen. Ganz neu ist die Technik jetzt nicht, aber es stimmt sicher, dass in den letzten zehn Jahren sehr viel sowohl auch in komponierter Musik als auch in Improvisierter Musik vorkommt.
Die Sendung hat den Untertitel Eine innere Vorstellung von Klang. Das könnten sehr viele Musiker von sich behaupten. Ich habe das aus einem Interview von dir gezogen, und du hast uns auch schon ein bisschen in diese Richtung geführt. Wie ist denn diese innere Vorstellung von Klang bei dir gespeichert? Denken wir mal an eine Live-Situation. Wie kommst du dazu, wenn du es jetzt nicht notiert hast, beim nächsten Stück einen speziellen Klang einzusetzen? Wo holst du sozusagen die Gewissheit her oder die Idee her?
Erst mal geht es darum, die innere Datenbank immer weiter zu füttern. Quasi alles, was ich aufführe und was ich ausprobiere, wird erst mal gespeichert, wenn es, wenn es mich interessiert. (…) Und es ist gleichzeitig nichts anders als beim „klassischen Instrumentenklang“, der wird ja auch abgespeichert beim Üben, Einstudieren. Nicht nur ich, die meisten haben eine sehr klare Vorstellung davon, wie ein Klavier klingt. Da geht es darum, das zu verfeinern. Und genauso geht das mit den erweiterten Techniken. Weil ich das so oft ausprobiert und einstudiert habe, weiß ich genau, welcher Klang dabei rauskommt. Und ich würde auch sagen, dass sich das insoweit gar nicht unterscheidet vom klassischen Klavierklang.
—wird fortgesetzt
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