Michael Rüsenberg im Gespräch mit dem Philosophen Philipp Hübl
Berlin, 4. November 2024
MiRü: Bevor wir zu dem Buch kommen: Moral, Ethik und unsere Moral im Alltag. Wie hängen die Dinge zusammen? Ist Ethik der höher angesiedelte, der wissenschaftliche Begriff zu Moral? Und dann die Alltagsmoral gewissermaßen ganz unten, wortwörtlich, also Graswurzel-Moral?
Philipp Hübl: Damit sind erst mal unsere Werte und Normen gemeint, also was wir für Gut und Böse erachten und was wir glauben, was wir tun sollen. Jeder Mensch hat eine Moral. Man könnte die Alltagsmoral nennen, und Ethik ist die Wissenschaft der Moral als eine Teildisziplin der Philosophie, die wissenschaftliche Analyse oder Rekonstruktion der Moral ist. Man versucht eine Ethik, das, was wir im Alltag so bewerten und für richtig und falsch halten, von allgemeinen Prinzipien abzuleiten, würde ich sagen. Und unsere Alltagsmoral stimmt manchmal mit einer universellen Ethik überein. Wir halten uns zum Beispiel mehr oder weniger schon irgendwie an die Menschenrechte. Wir glauben, man sollte Menschen nicht töten, man sollte nicht stehlen.
Im Alltag fallen wir oft hinter dieses Ideal einer universellen Ethik zurück, weil wir zum Beispiel unsere eigene Gruppe für moralischer halten, als andere Leute auch bevorzugen. Wir sind auch nicht so gerecht, wie man sich das normalerweise vorstellen sollte. Wir sind nicht so wie ein Richter oder eine Richterin, die nach allgemeinen Prinzipien urteilt. Das wäre so eine Form von einer formalisierten Ethik, sondern wir sind ja Stammesmenschen geblieben. Wir bevorzugen unsere eigene Gruppe.
Das Buch trägt den Titel „Moralspektakel“, und es gibt dazu eine greifbare Formel: „Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel“. Ist das eine völlig neue Entwicklung oder gibt es da Vorläufer dazu?
Das gab es schon immer. Weil uns Moral am Herzen liegt und dafür da ist, unser Leben zu regulieren, unser Zusammenleben zu regulieren, können wir moralische Urteile auch verwenden, um etwas über uns zu sagen. Es hat eine soziale oder kommunikative Funktion. Wir stellen uns darüber dar. Das haben Menschen immer gemacht. Wir kennen extreme Formen, zum Beispiel aus der Religion. Die Pharisäer, die so getan haben, als seien sie besonders gläubig und moralisch, aber es wirklich nicht waren Leute, die besonders tugendhaft sind, Tugendprotze, Prinzipienreiter, die hat es immer gegeben. Und meine These ist, dass diese kommunikative soziale Funktion verstärkt wird durch die sozialen Medien, weil es nicht mehr so ist, dass wir in einer kleinen Gruppe sind, wo die Leute uns kennen, sondern wir jetzt plötzlich, wenn wir öffentlich auftreten, in den digitalen Medien, aber auch auf einer Webseite durch andere Kanäle, plötzlich von der ganzen Welt beurteilt werden können. Wenn wir das wissen, dass uns potenziell jeder beurteilen könnte, müssen wir stärkeres Reputationsmanagement machen. Wir müssen uns überlegen: „kann ich vielleicht falsch verstanden werden, wenn ich was Unklares oder Mehrdeutiges sage?“ Aber umgekehrt sind wir auch verführt, uns als etwas moralischer und besser, vielleicht sensibler, aber vielleicht auch härter, traditionalistischer, gläubiger – je nachdem, wo wir uns verorten – darzustellen, als wir tatsächlich sind.
Es nutzen ja nicht alle die digitalen Medien, so wie sie beispielsweise in den offiziellen Medien, auch in der Tagesschau, zitiert werden: „bei Facebook liest man dieses, bei X jenes“. Ich zum Beispiel nehme überhaupt nicht daran teil, obwohl ich mich natürlich auch digitaler Medien bediene. Also was ist mit denen wie ich, die zum Beispiel weder bei Facebook noch bei X noch sonst irgendwelchen Messengerdiensten, außer sagen wir mal Signal, tätig sind? Sind auch wir irgendwie betroffen von dem Ganzen, oder geht es an uns vorbei?
Es mag sein, dass es in der Wahrnehmung vorbeigeht an den Menschen, aber ich glaube, sie sind in jedem Fall auch betroffen, weil natürlich, sobald man in der Öffentlichkeit steht, das heißt, wer etwas publiziert, vielleicht eine Kolumne in der Zeitung, obwohl er selber nicht in den digitalen Medien ist, muss auch damit rechnen, dass die wiederum verwendet wird von anderen Leuten zur moralischen Selbstdarstellung, vor allen Dingen durch Empörung. Das ist das typische Mittel. Wenn ich zeigen möchte, dass ich besonders sensibel bin bei einem bestimmten Thema, dann rege ich mich über andere auf. Dann wirke ich nicht so eitel und sagt von mir selber, dass ich sensibel bin, sondern ich zeige, indem ich mich über andere aufrege, dass mir ein Wert am Herzen liegt. Das heißt, jeder, der sich irgendwie in die Öffentlichkeit begibt, muss damit rechnen, hat das vielleicht auch schon mal erlebt, dass das verwendet wird. Wenn die Person dann nicht in den sozialen Medien ist, kriegt sie es vielleicht nicht mit. Aber auch Leute, die nicht in den sozialen Medien sind, werden wiederum in den sozialen Medien diskutiert und kommentiert.
Nun gab es ja moralische Handlungsagenturen immer schon. Ich denke zum Beispiel an den Stammtisch. Was ist der Unterschied zwischen dem Stammtisch und den heutigen digitalen Medien, wo ja ähnliche Meinungen in gewissen Blasen, nennen wir es mal so, geäußert werden?
Ja, man kann sagen, der Stammtisch war/ist eigentlich eine typische Form der Echokammer. Eine kleine Gruppe mit typischerweise auch ähnlichen Meinungen hat sich getroffen und ihre Meinungen ausgetauscht. Wenn da jemand etwas gesagt, einen Witz gemacht hat, irgendwie vielleicht auch mal daneben lag, dann kannten alle sich untereinander. Also man wusste „ah, der hat sich jetzt versprochen“ oder vielleicht nur einen Witz gemacht. Oder hat man auch mal drüber hinweg geschaut oder man hat ihm oder ihr die Möglichkeit gegeben, sich zu entschuldigen, wenn es mal wirklich ganz weit daneben ging. Aber weil sich alle untereinander kannten, musste man nicht so starkes Reputationsmanagement machen, musste nicht immer wieder unter Beweis stellen, dass man auf der richtigen Seite steht. Wenn man den Stammtisch jetzt auf die ganze Welt ausbreitet, hat man potenziell unendlich viele Leute, die einen nicht kennen, für die man vollkommen anonym ist. Und die könnten einen jetzt falsch verstehen. Und wir wissen, die digitalen Medien sind kontextarm. Das heißt, wir sehen nur kleine Sätze, wir kennen nicht den Kontext, den Hintergrund, wir wissen nicht die Absichten des Sprechers. Von der Natur der Sache wird viel falsch verstanden, und dann wollen Leute auch Sachen absichtlich falsch verstehen und das bringt diese neue Qualität, dass wir uns versichern müssen. Wir müssen uns versichern gegen Fehlinterpretationen. Und sobald wir das tun, müssen wir klare Signale senden. Und ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Leute Mehrdeutigkeiten oder Ungenauigkeiten meiden. Vielleicht auch zu einem Thema lieber gar nichts sagen, weil man einfach zu weit ausholen müsste, um nicht falsch verstanden zu werden. Oder umgekehrt, warum sie diese überdeutlichen Signale senden, also sich über kleinste Kleinigkeiten aufregen, die nie einen gestört haben, wo es keine Normverletzung gibt, nur um damit wiederum zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Denn moralische Marker moralischer Äußerungen sind nicht nur dafür da, das Zusammenleben zu regulieren, sondern sie sind natürlich auch Gruppenmarkierungen, Gruppensignale. Man zeigt damit „ich gehöre zu euch, ich rege mich über die und die Person auf“, weil die anderen sich eben auch über diese Person aufregen.
Apropos Gruppenzugehörigkeit, das Buch legt den Eindruck nahe, dass die kreative Klasse – Michael Rutschky hätte gesprochen von „den kreativen Kadern“ – besonders anfällig sind für das, was zum Titel wurde, nämlich für Moralspektakel. Das mag zunächst einmal überraschen, weil man doch denkt: das sind die Gebildeten, die Aufgeklärten, die Selbstreflektierten.
Genau das ist sogar die These. Ich glaube, man kann dafür ziemlich viele Hinweise finden, dass Akademiker – und vor allen Dingen Akademiker, die in der Kreativwirtschaft arbeiten, also Medien, Kultur, in den Universitäten und vielleicht auch innovative Unternehmen – besonders stark ein Moralspektakel aufführen. Das hat verschiedene Gründe. Es hat einmal etwas damit zu tun, dass man eine bestimmte Bildung benötigt, vor allen Dingen, eine bestimmte Bildung des neuen progressiven Moralvokabulars. Das muss man einfach kennen und lernen. Das ist nicht so leicht. Also ein Beispiel ist, allein zu wissen, was die Abkürzung LGBTQI plus bedeutet. Und ein anderer Grund ist – das kann man auf der ganzen Welt beobachten – nur wenn große Missstände aus dem Weg geräumt sind, also man keine großen materiellen Sorgen mehr hat, dann kann man sich um kleinere moralische Probleme kümmern, die es immer noch gibt, die immer noch diskutiert werden müssen, dies aber dann oft auf einer symbolischen oder sprachlichen Ebene stattfindet. Also wer dafür sorgen muss tagaus, tagein, dass die Kinder genug zu essen haben (das gilt jetzt nicht so sehr für den Westen, sondern vor allem für den Rest der Welt), der wird sich nicht noch darum Gedanken machen, ob die Nachbarin oder der Nachbar richtig gegendert hat oder einen schlechten Witz gemacht hat. Aber wenn das alles gesichert ist, dann fängt man an, diese Kleinigkeiten in den Vordergrund zu schieben und benutzt sie dann auch gleich als Distinktionsmerkmal. Ich glaube, das ist eine wichtige Beobachtung, dass Moral, wie Pierre Bourdieu das gesagt hat, auch zum Habitus inzwischen dazugehört. Also wir ästhetisieren uns und grenzen uns nicht nur ab durch unseren Geschmack, welche Art von Musik wir zum Beispiel mögen, sondern eben auch dadurch, dass wir die richtigen moralischen Einstellungen haben und die richtigen Worte kennen.
In dem Buch habe ich auch einen Hinweis darauf gefunden, dass gerade in der kreativen Klasse, von der wir gerade gesprochen haben, die Arbeitsverhältnisse anders organisiert sind, wie, sagen wir mal, in der Industrie, in großen Unternehmen; nämlich dass zwischen Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen häufig kein Unterschied ist, sondern man mit denen, mit denen man zusammenarbeitet, man auch zumindest tendenziell leicht befreundet ist, Hat auch das einen Aspekt in diesem Thema, was wir hier diskutieren?
Ja, meiner Meinung nach schon. Wenn Menschen befreundet sind, konkurrieren sie normalerweise nicht auf einer Berufsebene. Und wenn sie beruflich zusammenarbeiten, dann haben sie normalerweise nicht die Freundschaftsebene. Wenn man beides vermischt, gibt es eine, glaube ich, eine ungute Situation. Im Englischen nennt man diese Personen Frenemies, also zusammengesetzt aus Friend und Enemy. Man ist gleichzeitig befreundet, weil man sich man ist per Du, ist im gleichen Milieu und trifft sich vielleicht auch privat, aber man konkurriert vielleicht auch in bestimmten Arbeitsfelden um dieselben Stellen, dieselben Preise, die Anerkennung, wenn man am freien Markt ist, die Aufmerksamkeit. Und immer, wenn Menschen konkurrieren, im Konkurrenzkampf stehen (man könnte sagen, das ist eine spezielle Form des Statuskampfes, weil es natürlich darum geht, wer ist, wer hat mehr Erfolg in einer bestimmten Kategorie, wer ist höher gestellt? Darum geht es bei Status) – dann laufen alle möglichen Mechanismen ab. Besonders typisch ist natürlich, dass man neidisch ist, wenn jemand anders Erfolg hat; davon können wir uns gar nicht freimachen. Neid hat auch diese positive Funktion, dass er irgendwie das Zusammenleben reguliert. Wenn jemand zu viel hat, sind wir neidisch; wenn jemand zu wenig hat, haben wir Mitgefühl. Beide Emotionen scheinen irgendwie eine Demokratisierung zu regulieren unter den Menschen. Aber es kann natürlich auch manchmal dazu führen, dass wir destruktiven Neid verspüren und wollen, dass die Person, die jetzt erfolgreicher ist, vielleicht zu Recht, vielleicht zu Unrecht, von ihrem hohen Ross runter geholt. Wird. Oft ist es dann leichter, auf die Moralebene zu wechseln, weil wir vielleicht nicht auf der Ebene der Fähigkeiten, des Talents mithalten können. Und die Moralebene hat den Vorteil in diesem Statuskampf, dass wir durch Kritik oder Anwürfe jemanden beschädigen können und dafür nicht großen Einsatz leisten müssen. Wir können jemanden von dem hohen Sockel holen, ohne dass wir selber einen großen Aufwand betreiben müssen. Und deshalb gibt es immer diese Verlockung, Moral auch als Waffe einzusetzen im Konkurrenzkampf.
Welche Rolle spielen die sogenannten Buzzwords darin oder Schlüsselwörter? Man hat den Eindruck, dass häufig nur auf Schlüsselbegriffe reagiert wird, ohne den Kontext zu beachten und sofort mit Schlüsselbegriffen, nämlich mit pejorativen, mit Verurteilungen wie zum Beispiel Rassismus, geahndet wird.
Das gesamte moralische Vokabular – dazu gehören Rassismus, Antisemitismus, Homosexuellenfeindlichkeit usw, aber auch ein neues moralisches Vokabular Intersectionality, toxische Maskulinität, Victimblaming usw. – ist vor zehn Jahren hochgeschossen. Und man könnte jetzt sagen, das liegt vielleicht daran, dass die Menschen moralisch sensibler sind. Das stimmt auch zu einem gewissen Grade. Aber ich glaube, es gibt einen zweiten, stärkeren Faktor, nämlich dass dieses Vokabular oft unklar definiert ist und nicht mehr verwendet wird, um wirkliche Missstände zu bekämpfen, sondern wiederum im Konkurrenzkampf leicht verwendet werden kann. Die meisten Leute kennen die Bedeutung der Begriffe nicht, aber sie wissen, a), sie senden die richtigen Signale an ihre Gruppe und b), man kann ziemlich leicht jemanden angreifen, und die Verteidigung ist wiederum viel, viel schwieriger. Es ist leichter zu sagen „das, was du gesagt hast, ist rassistisch“, als für den anderen zu erklären, warum es nicht rassistisch ist. Und weil der Angriff so schwer wiegt, ist es einfach verlockend, früher oder später dieses Manöver zu verwenden. Es ist ein bisschen vergleichbar mit einem anderen Manöver im Alltag, nämlich „meine Gefühle wurden verletzt“. Das ist etwas, was wir früher aus den Religionsdiskussionen kannten. Leute, die religiös waren, wollten nicht Argumente hören, dass sie vielleicht eine nicht so plausible moralische Position vertreten und haben immer sofort, wenn sie kritisiert wurden, gesagt „meine Gefühle wurden verletzt“. Man konnte dagegen nicht noch was sagen – das war sozusagen eine Immunisierungstaktik. Deshalb hat sich das durchgesetzt. Und etwas sehr Ähnliches erleben wir jetzt auch, dass man sagt, ich fühle mich diskriminiert oder zurückgesetzt oder „was du tust, ist sexistisch, rassistisch“ oder in irgendeiner anderen Weise „menschenfeindlich“. Weil der Vorwurf schon so schwer wiegt, fordern die Leute dann selten auch die Beweise ein. Normalerweise müsste man bei so einem schweren Vorwurf ja sagen „hier sind die Belege!“. Aber der Vorwurf reicht oft aus, und es ist einfach eine Taktik, um sich erst mal gegen den Gegenschlag zu immunisieren, weil man zuerst sozusagen das schlimme Wort verwendet hat.
In einem Vorgespräch hatte ich die UdK erwähnt, also Universität der Künste hier in Berlin. Du hast dort drei Jahre gelehrt, Philosophie unterrichtet, wenn ich richtig informiert bin, und ich hatte den Eindruck, ich stoße damit geradezu ein Scheunentor auf.
Ja, natürlich sind das Moralspektakel und dieses sehr progressive moralische Vokabular an bestimmten Orten besonders virulent. Und das sind die Orte, die ohnehin sehr, sehr progressiv sind, wo die Leute sehr weltoffen und sehr liberal sind, beispielsweise die Kunstuniversitäten, die Theaterszene, die Musikszene. Da sind die Leute ganz besonders sensibilisiert. Und ironischerweise sind das auch die Orte, wo sie sich gegenseitig am stärksten diese schlimmen Formen der Menschenfeindlichkeit vorwerfen. Ich habe eine Email bekommen, ich weiß gar nicht mehr, von wem, wo sinngemäß drinstand, dass die UdK ein zutiefst rassistischer Ort ist. Es gab aber so gut wie gar keinen einzigen Fall von rassistischer Diskriminierung, der gemeldet wurde (es gibt da mehrere Stellen, wo man das melden kann in der Zeit, in der ich da war). Und natürlich sind die Leute so weltoffen und liberal und auch international und divers, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann. Die echten Menschenfeinde sitzen wo ganz anders. Die sind auch oft nicht in den Universitäten, sondern natürlich an ganz anderen Orten. Aber um die kümmert man sich gar nicht, sondern man fragt sich dann eher „Aha, im Nachbaratelier oder im Nachbarbüro, hat die Kollegin das richtige Wort verwendet? Hat der Student da, der da irgendwas malt, vielleicht das falsche Bild an die Wand gemalt?“ Also das sind dann am Ende wieder diese winzigen Binnendifferenzen. Freud sagt „der Narzissmus der kleinsten Differenz oder der kleinen Differenz“. Man müsste eigentlich sagen der kleinsten Differenz, die werden ausgehandelt. Und wenn man das sieht, dann sieht man wieder „Aha, Es sind wieder Leute, die in derselben Branche arbeiten, ungefähr denselben Status haben“. Und da, das merkt man vielleicht gar nicht, wird dieser Konkurrenz- und Statuskampf automatisch immer wieder aktiviert.
Dieser Konkurrenz- und Statuskampf hat ja auch eine ganz stark diskriminierende Komponente. Ich erinnere zum Beispiel an einen Vorfall, wo eine ehemalige Studentin an der UdK einen Instrumentalprofessor bezichtigt. Und wenn man die Vorwürfe klassifiziert, kommt man nicht umhin zu sagen: das ist nichts anderes als eine amour fou. Die gibt es bestimmt nicht nur an der UdK, sondern auch in vielen anderen Institutionen. Nur wurde das aufgebrezelt durch Vokabular und durch falsches Zitieren aus einer Studie, sodass es heißt: ich bin so behandelt worden, wie eine Studie zweier New Yorker Psychologinnen darlegt. Interessanterweise ist diesem Falle schon aus dem Titel der Studie der Begriff „child molesters“ getilgt worden. Child molesters sind Kinderschänder. Das heißt, hier hat eine erwachsene Frau ihren Professor einer früheren Liebschaft wegen mit Vokabular traktiert, das eigentlich auf Kinderschänder gemünzt ist. Referenz war ein empirisches Modell für eine bestimmte Opfergruppe, ohne dies kenntlich zu machen. Das ist für mich ein ganz krasser Fall eines solchen Geschlechterkampfes.
Ich kenne die absoluten Details dieses Falles nicht, aber wenn man sich das jetzt mal allgemein anschaut, ist natürlich klar, dass wir im Alltag ständig Konflikte aushandeln. Ob im Beruf ist oder im Privatleben, es gibt immer Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen; manchmal verhalten sich Menschen auch schlecht. Und gerade in den Bereichen, wo wir weit unterhalb der Strafbarkeit liegen, haben wir keine Sanktionsmöglichkeiten. Nehmen wir den Fall einer Trennung; wir sind irgendwie sauer, fühlen uns zurückgesetzt. Wir würden irgendwie gerne die oder den dafür bestrafen, können das aber nicht. Und natürlich ist es jetzt verlockend, ein Vokabular zu verwenden und sich sozusagen den Fall so hinzulegen, dass es aussieht, als sei da etwas Schwerwiegendes, moralisch Falsches passiert. Und ich würde auch sagen, das ist sehr menschlich, sich das so zurechtzulegen. Das Vokabular lädt auch ein, bei den Kategorien, die wir kennen, Täter und Opfer, und es gibt immer nur Täter und Opfer, da muss typischerweise der Mann der Täter sein, die Frau das Opfer. In der wirklichen Welt ist es aber viel, viel komplexer. Wenn Beziehungen scheitern, ist nicht nur der eine der Täter und nicht nur die andere das Opfer. Dass es viele Graustufen gibt, von schlechten, ungehörigem Verhalten bis hin zu wirklich kriminellen Handlungen oder Nötigung, was natürlich dann die Gerichte feststellen, ist auch klar. Da ist es dann wiederum verlockend, den eigenen Schmerz als etwas Moralisches zu veredeln und zu sagen, der andere hat nicht nur einfach sich von mir getrennt, sondern mich ausgetrickst oder mir was vorgemacht (auch Täuschung gehört natürlich zum Balzverhalten dazu), es war moralisch falsch, was die Person da gemacht hat. Jetzt habe ich den Anspruch darauf, dass diese Person dafür auch öffentlich bestraft wird.
—wird fortgesetzt
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