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Radiotexte für WDR, SWR, HR, DLF, Essays zur Musik (1998 bis heute), Interviews mit MusikerInnen

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12. Nov. 2024 | Aktuelles, Interviews

Philipp Hübl

Michael Rüsenberg im Gespräch mit  dem Philosophen Philipp Hübl

Berlin, 4. November 2024

MiRü: Bevor wir zu dem Buch kommen: Moral, Ethik und unsere Moral im Alltag. Wie hängen die Dinge zusammen? Ist Ethik der höher angesiedelte, der wissenschaftliche Begriff zu Moral? Und dann die Alltagsmoral gewissermaßen ganz unten, wortwörtlich, also Graswurzel-Moral?

Philipp Hübl: Damit sind erst mal unsere Werte und Normen gemeint, also was wir für Gut und Böse erachten und was wir glauben, was wir tun sollen. Jeder Mensch hat eine Moral. Man könnte die Alltagsmoral nennen, und Ethik ist die Wissenschaft der Moral als eine Teildisziplin der Philosophie. Man versucht eine Ethik, das, was wir im Alltag so bewerten und für richtig und falsch halten, von allgemeinen Prinzipien abzuleiten, würde ich sagen. Unsere Alltagsmoral stimmt manchmal mit einer universellen Ethik überein. Wir halten uns zum Beispiel mehr oder weniger schon irgendwie an die Menschenrechte. Wir glauben, man sollte Menschen nicht töten, man sollte nicht stehlen.
Im Alltag fallen wir oft hinter dieses Ideal einer universellen Ethik zurück, weil wir zum Beispiel unsere eigene Gruppe für moralischer halten. Wir sind auch nicht so gerecht, wie man sich das normalerweise vorstellen sollte. Wir sind nicht so wie ein Richter oder eine Richterin, die nach allgemeinen Prinzipien urteilt. Das wäre so eine Form von einer formalisierten Ethik, sondern wir sind Stammesmenschen geblieben. Wir bevorzugen unsere eigene Gruppe.

Das Buch trägt den Titel „Moralspektakel“, und es gibt dazu eine greifbare Formel: „Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel“. Ist das eine völlig neue Entwicklung oder gibt es da Vorläufer dazu?

Das gab es schon immer. Weil uns Moral am Herzen liegt und dafür da ist, unser Leben zu regulieren, unser Zusammenleben zu regulieren, können wir moralische Urteile auch verwenden, um etwas über uns zu sagen. Es hat eine soziale oder kommunikative Funktion. Wir stellen uns darüber dar. Das haben Menschen immer gemacht. Wir kennen extreme Formen, zum Beispiel aus der Religion. Die Pharisäer, die so getan haben, als seien sie besonders gläubig und moralisch, aber es wirklich nicht waren; Leute, die besonders tugendhaft sind, Tugendprotze, Prinzipienreiter, die hat es immer gegeben. Und meine These ist, dass diese kommunikative soziale Funktion verstärkt wird durch die sozialen Medien, weil wir nicht mehr in einer kleinen Gruppe sind, wo die Leute uns kennen, sondern wir jetzt plötzlich, wenn wir öffentlich auftreten, in den digitalen Medien, aber auch auf einer Webseite, plötzlich von der ganzen Welt beurteilt werden können. Wenn wir das wissen, dass uns potenziell jeder beurteilen könnte, müssen wir stärkeres Reputations-management machen. Wir müssen uns überlegen: „kann ich vielleicht falsch verstanden werden, wenn ich was Unklares oder Mehrdeutiges sage?“ Aber umgekehrt sind wir auch verführt, uns als etwas moralischer und besser, vielleicht sensibler, aber vielleicht auch härter, traditionalistischer, gläubiger – je nachdem, wo wir uns verorten – darzustellen, als wir tatsächlich sind.

Es nutzen ja nicht alle die digitalen Medien, so wie sie beispielsweise in den offiziellen Medien, auch in der Tagesschau, zitiert werden: „bei Facebook liest man dieses, bei X jenes“. Ich zum Beispiel nehme überhaupt nicht daran teil, obwohl ich mich natürlich auch digitaler Medien bediene. Also was ist mit denen wie ich, die zum Beispiel weder bei Facebook noch bei X noch sonst irgendwelchen Messengerdiensten, außer sagen wir mal Signal, tätig sind? Sind auch wir irgendwie betroffen von dem Ganzen, oder geht es an uns vorbei?

Es mag sein, dass es in der Wahrnehmung vorbeigeht an den Menschen, aber ich glaube, sie sind in jedem Fall auch betroffen, weil sobald man in der Öffentlichkeit steht, das heißt, wer etwas publiziert, vielleicht eine Kolumne in der Zeitung, obwohl er selber nicht in den digitalen Medien ist, muss auch damit rechnen, dass diese wiederum verwendet wird von anderen Leuten zur moralischen Selbstdarstellung, vor allen Dingen durch Empörung. Das ist das typische Mittel. Wenn ich zeigen möchte, dass ich besonders sensibel bin bei einem bestimmten Thema, dann rege ich mich über andere auf. Dann wirke ich nicht so eitel und sagt von mir selber, dass ich sensibel bin, sondern ich zeige, indem ich mich über andere aufrege, dass mir ein Wert am Herzen liegt. Das heißt, jeder, der sich irgendwie in die Öffentlichkeit begibt, muss damit rechnen oder hat das vielleicht auch schon mal erlebt, dass das verwendet wird. Wenn die Person dann nicht in den sozialen Medien ist, kriegt sie es vielleicht nicht mit. Aber auch Leute, die nicht in den sozialen Medien sind, werden wiederum in den sozialen Medien diskutiert und kommentiert.

Nun gab es ja moralische Handlungsagenturen immer schon. Ich denke zum Beispiel an den Stammtisch. Was ist der Unterschied zwischen dem Stammtisch und den heutigen digitalen Medien, wo ähnliche Meinungen in gewissen Blasen, nennen wir es mal so, geäußert werden?

Ja, man kann sagen, der Stammtisch war/ist eigentlich eine typische Form der Echokammer. Eine kleine Gruppe mit typischerweise auch ähnlichen Meinungen hat sich getroffen und ihre Meinungen ausgetauscht. Wenn da jemand etwas sagt, einen Witz macht, irgendwie vielleicht auch mal daneben liegt, dann kennen alle sich untereinander. Also man weiss „ah, der hat sich jetzt versprochen“ oder vielleicht nur einen Witz gemacht. Oder man schaut auch mal drüber hinweg oder gibt ihm oder ihr die Möglichkeit, sich zu entschuldigen, wenn es mal wirklich ganz weit daneben ging. Aber weil sich alle untereinander kennen, muss man nicht so starkes Reputationsmanagement machen und nicht immer wieder unter Beweis stellen, dass man auf der richtigen Seite steht.
Wenn man den Stammtisch jetzt auf die ganze Welt ausweitet, hat man potenziell unendlich viele Leute, die einen nicht kennen, für die man vollkommen anonym ist. Und die könnten einen jetzt falsch verstehen. Und wie wir wissen, sind die digitalen Medien kontextarm. Das heißt, wir sehen nur kleine Sätze, wir kennen nicht den Kontext, den Hintergrund, wir wissen nichts über die Absichten des Sprechers. Von der Natur der Sache wird viel falsch verstanden, und dann wollen Leute auch Dinge absichtlich falsch verstehen, und das bringt diese neue Qualität, dass wir uns versichern müssen gegen Fehlinterpretationen. Und sobald wir das tun, müssen wir klare Signale senden. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Leute Mehrdeutigkeiten oder Ungenauigkeiten meiden. Vielleicht auch zu einem Thema lieber gar nichts sagen, weil man einfach zu weit ausholen müsste, um nicht falsch verstanden zu werden. Oder umgekehrt, warum sie diese überdeutlichen Signale senden, also sich über kleinste Kleinigkeiten aufregen, die nie einen gestört haben, wo es keine Normverletzung gibt, nur um damit wiederum zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Moralische Marker moralischer Äußerungen sind nicht nur dafür da, das Zusammenleben zu regulieren, sondern sie sind natürlich auch Gruppenmarkierungen, Gruppensignale. Man zeigt damit „ich gehöre zu euch, ich rege mich über diese und jen Person auf“, weil die anderen sich eben auch über diese Person aufregen.

Apropos Gruppenzugehörigkeit, das Buch legt den Eindruck nahe, dass die kreative Klasse – Michael Rutschky hätte von „den kreativen Kadern“ gesprochen – besonders anfällig sind für das, was dem Buch zum Titel wurde, nämlich für Moralspektakel. Das mag zunächst einmal überraschen, weil man doch denkt: das sind die Gebildeten, die Aufgeklärten, die Selbstreflektierten.

Genau das ist sogar die These. Ich glaube, man kann dafür ziemlich viele Hinweise finden, dass Akademiker – und vor allen Dingen Akademiker, die in der Kreativwirtschaft arbeiten, also Medien, Kultur, in den Universitäten und vielleicht auch innovative Unternehmen – besonders stark ein Moralspektakel aufführen. Das hat verschiedene Gründe. Es hat einmal etwas damit zu tun, dass man eine bestimmte Bildung benötigt, vor allen Dingen eine bestimmte Bildung des neuen progressiven Moralvokabulars. Das muss man einfach kennen und lernen. Das ist nicht so leicht. Also ein Beispiel ist zu wissen, was die Abkürzung LGBTQI+ bedeutet.
Und ein anderer Grund ist – das kann man auf der ganzen Welt beobachten – nur wenn große Missstände aus dem Weg geräumt sind, also man keine großen materiellen Sorgen mehr hat, dann kann man sich um kleinere moralische Probleme kümmern, die es immer noch gibt, die immer noch diskutiert werden müssen, die aber dann oft auf einer symbolischen oder sprachlichen Ebene stattfinden. Also wer dafür sorgen muss tagaus, tagein, dass die Kinder genug zu essen haben (das gilt jetzt nicht so sehr für den Westen, sondern vor allem für den Rest der Welt), der wird sich nicht noch darum Gedanken machen, ob die Nachbarin oder der Nachbar richtig gegendert oder einen schlechten Witz gemacht hat. Aber wenn das alles gesichert ist, dann beginnt man, diese Kleinigkeiten in den Vordergrund zu schieben und benutzt sie dann auch gleich als Distinktionsmerkmal. Ich glaube, das ist eine wichtige Beobachtung, dass Moral, wie Pierre Bourdieu gezeigt hat, inzwischen auch zum Habitus gehört. Also wir ästhetisieren und grenzen uns nicht nur ab durch unseren Geschmack, welche Art von Musik wir zum Beispiel mögen, sondern eben auch dadurch, dass wir die richtigen moralischen Einstellungen haben und die richtigen Worte kennen.

In dem Buch habe ich auch einen Hinweis darauf gefunden, dass gerade in der kreativen Klasse, von der wir gerade gesprochen haben, die Arbeitsverhältnisse anders organisiert sind, wie, sagen wir mal, in der Industrie, in großen Unternehmen; nämlich dass zwischen Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen häufig kein Unterschied ist, sondern man mit denen, mit denen man zusammenarbeitet, man auch zumindest tendenziell leicht befreundet ist, Hat auch das einen Aspekt in diesem Thema, was wir hier diskutieren?

Ja, meiner Meinung nach schon. Wenn Menschen befreundet sind, konkurrieren sie normalerweise nicht auf einer Berufsebene. Und wenn sie beruflich zusammenarbeiten, dann haben sie normalerweise nicht die Freundschaftsebene. Wenn man beides vermischt, gibt es eine, glaube ich, eine ungute Situation. Im Englischen nennt man diese Personen Frenemies, also zusammengesetzt aus Friend und Enemy. Man ist gleichzeitig befreundet, man ist per Du, ist im gleichen Milieu und trifft sich vielleicht auch privat, aber man konkurriert vielleicht auch in bestimmten Arbeitsfelden um dieselben Stellen, dieselben Preise, die Anerkennung, wenn man am freien Markt ist, die Aufmerksamkeit.
Und immer, wenn Menschen im Konkurrenzkampf stehen (man könnte sagen, das ist eine spezielle Form des Statuskampfes, weil es natürlich darum geht, wer hat mehr Erfolg in einer bestimmten Kategorie, wer ist höher gestellt? Darum geht es bei Status) – dann laufen alle möglichen Mechanismen ab. Besonders typisch ist natürlich, dass man neidisch ist, wenn jemand anders Erfolg hat; davon können wir uns gar nicht freimachen. Neid hat auch diese positive Funktion, dass er irgendwie das Zusammenleben reguliert. Wenn jemand zu viel hat, sind wir neidisch; wenn jemand zu wenig hat, haben wir Mitgefühl. Beide Emotionen scheinen irgendwie eine Demokratisierung zu regulieren unter den Menschen. Aber es kann natürlich auch manchmal dazu führen, dass wir destruktiven Neid verspüren und wollen, dass die Person, die erfolgreicher ist, von ihrem hohen Ross runter geholt wird. Oft ist es dann leichter, auf die Moralebene zu wechseln, weil wir vielleicht nicht auf der Ebene der Fähigkeiten, des Talents mithalten können. Und die Moralebene hat in diesem Statuskampf den Vorteil, dass wir durch Kritik oder Anwürfe jemanden beschädigen können und dafür nicht großen Aufwand leisten müssen. Und deshalb gibt es immer diese Verlockung, Moral auch als Waffe einzusetzen im Konkurrenzkampf.

Welche Rolle spielen die sogenannten Buzzwords darin oder Schlüsselwörter? Man hat den Eindruck, dass häufig nur auf Schlüsselbegriffe reagiert wird, ohne den Kontext zu beachten und sofort mit Schlüsselbegriffen, nämlich mit pejorativen, mit Verurteilungen wie zum Beispiel Rassismus, geahndet wird.

Das gesamte moralische Vokabular – dazu gehören Rassismus, Antisemitismus, Homosexuellenfeindlichkeit usw, aber auch ein neues moralisches Vokabular wie Intersectionality, toxische Maskulinität, Victimblaming usw. – ist vor zehn Jahren hochgeschossen. Und man könnte jetzt sagen, das liegt vielleicht daran, dass die Menschen moralisch sensibler geworden sind. Das stimmt auch zu einem gewissen Grade. Aber ich glaube, es gibt einen zweiten, stärkeren Faktor, nämlich dass dieses Vokabular oft unklar definiert ist und nicht mehr verwendet wird, um wirkliche Missstände zu bekämpfen, sondern wiederum im Konkurrenzkampf leicht eingesetzt werden kann.
Die meisten Leute kennen die Bedeutung der Begriffe nicht, aber sie wissen, a), sie senden die richtigen Signale an ihre Gruppe und b), man kann ziemlich leicht jemanden angreifen, denn die Verteidigung ist viel, viel schwieriger. Es ist leichter zu sagen „das, was du gesagt hast, ist rassistisch“, als für den anderen zu erklären, warum es nicht rassistisch ist. Und weil der Angriff so schwer wiegt, ist es einfach verlockend, früher oder später dieses Manöver zu verwenden. Es ist ein bisschen vergleichbar mit einem anderen Manöver im Alltag, nämlich „meine Gefühle wurden verletzt“. Das ist etwas, was wir früher aus den Religionsdiskussionen kannten. Leute, die religiös waren, wollten nicht Argumente hören, dass sie vielleicht eine nicht so plausible moralische Position vertreten und haben immer sofort, wenn sie kritisiert wurden, reagiert mit „meine Gefühle wurden verletzt“. Man konnte dagegen nichts einwenden – das war sozusagen eine Immunisierungstaktik. Deshalb hat sich das durchgesetzt.
Und etwas sehr Ähnliches erleben wir jetzt auch, dass man sagt, ich fühle mich diskriminiert oder zurückgesetzt oder „was du tust, ist sexistisch, rassistisch“ oder in irgendeiner anderen Weise „menschenfeindlich“. Weil der Vorwurf schon so schwer wiegt, fordern die Leute dann selten auch die Beweise ein. Normalerweise müsste man bei so einem schweren Vorwurf ja sagen „hier sind die Belege!“. Aber der Vorwurf reicht oft aus, und es ist einfach eine Taktik, um sich erst mal gegen den Gegenschlag zu immunisieren, weil man zuerst sozusagen das schlimme Wort verwendet hat.

In einem Vorgespräch hatte ich die UdK erwähnt, also Universität der Künste hier in Berlin. Sie haben dort drei Jahre gelehrt, Philosophie unterrichtet, und ich hatte den Eindruck, ich stoße damit geradezu ein Scheunentor auf.

Ja, natürlich sind das Moralspektakel und dieses sehr progressive moralische Vokabular an bestimmten Orten besonders virulent. Das sind die Orte, die ohnehin sehr, sehr progressiv sind, wo die Leute sehr weltoffen und sehr liberal sind, beispielsweise die Kunstuniversitäten, die Theaterszene, die Musikszene. Da sind die Leute ganz besonders sensibilisiert. Ironischerweise sind das aber auch die Orte, wo sie sich gegenseitig am stärksten diese schlimmen Formen der Menschenfeindlichkeit vorwerfen. Ich habe eine Email bekommen, wo sinngemäß drinstand, dass die UdK ein zutiefst rassistischer Ort sei. Es gab aber so gut wie keinen einzigen Fall von rassistischer Diskriminierung, der gemeldet wurde (es existierten mehrere Stellen, wo man das zu meiner Zeit melden konnte). Und natürlich sind die Leute so weltoffen, so liberal und auch international und divers, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann.
Die echten Menschenfeinde sitzen wo ganz anders, oft nicht in den Universitäten.  Aber um die kümmert man sich gar nicht, sondern man fragt sich dann eher „Aha, im Nachbaratelier oder im Nachbarbüro, hat die Kollegin das richtige Wort verwendet? Hat der Student da vielleicht das falsche Bild an die Wand gemalt?“ Das sind dann am Ende wieder diese winzigen Binnendifferenzen. Freud sagt „der Narzissmus der kleinsten Differenz oder der kleinen Differenz“. Man müsste eigentlich sagen der kleinsten Differenz, die werden ausgehandelt. Und wenn man das sieht, erkennt man wieder „aha, Es sind wieder Leute, die in derselben Branche arbeiten, ungefähr denselben Status haben“. Und da – das merkt man vielleicht gar nicht – wird dieser Konkurrenz- und Statuskampf automatisch immer wieder aktiviert.

Dieser Konkurrenz- und Statuskampf hat ja auch eine ganz stark diskriminierende Komponente. Ich erinnere zum Beispiel an einen Vorfall, wo eine ehemalige Studentin an der UdK einen Instrumentalprofessor bezichtigt. Und wenn man die Vorwürfe klassifiziert, kommt man nicht umhin zu sagen: das ist nichts anderes als eine amour fou. Die gibt es bestimmt nicht nur an der UdK, sondern auch in vielen anderen Institutionen. Nur wurde dieser Fall, deutlich unterhalb des Justiziablen, aufgebrezelt durch falsches Zitieren aus einer Studie, sodass es heißt: ich bin so behandelt worden, wie das Modell zweier New Yorker Psychologinnen darlegt. Interessanterweise wird diesem Falle der Titel der Studie nicht zitiert. Dort taucht nämlich der Begriff „child molesters“ auf; mithin Kinderschänder. Hier hat eine erwachsene Frau eine gescheiterte Liebschaft mit einem Vokabular „analysiert“, das eigentlich auf Kinderschänder gemünzt ist. Referenz war ein empirisches Modell für eine bestimmte Opfergruppe, ohne dies kenntlich zu machen. Das ist für mich ein ganz krasser Fall eines solchen Geschlechterkampfes.

Ich kenne die absoluten Details dieses Falles nicht, aber wenn man sich das jetzt mal allgemein anschaut, ist natürlich klar, dass wir im Alltag ständig Konflikte aushandeln. Ob im Beruf oder im Privatleben, es gibt immer Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen; manchmal verhalten sich Menschen auch schlecht. Und gerade in den Bereichen, wo wir weit unterhalb der Strafbarkeit liegen, haben wir keine Sanktionsmöglichkeiten. Nehmen wir den Fall einer Trennung; wir sind irgendwie sauer, fühlen uns zurückgesetzt. Wir würden irgendwie gerne die oder den dafür bestrafen, können das aber nicht. Da erscheint verlockend, ein Vokabular zu verwenden und sich sozusagen den Fall so hinzulegen, als sei da etwas Schwerwiegendes, moralisch Falsches passiert. Und ich würde auch sagen, das ist sehr menschlich, sich so zu verhalten. Das Vokabular lädt auch ein, bei den Kategorien, die wir kennen, Täter und Opfer, da muss typischer-weise der Mann der Täter sein, die Frau das Opfer. In der wirklichen Welt ist es aber viel, viel komplexer. Wenn Beziehungen scheitern, ist nicht nur der eine der Täter und nicht nur die andere das Opfer. Da gibt es viele Graustufen von schlechtem, ungehörigem Verhalten bis hin zu wirklich kriminellen Handlungen oder Nötigung, was natürlich dann die Gerichte feststellen, ist auch klar. Da erscheint es verlockend, den eigenen Schmerz als etwas Moralisches zu veredeln und zu sagen, der andere hat nicht nur einfach sich von mir getrennt, sondern hat mich ausgetrickst oder mir was vorgemacht (auch Täuschung gehört natürlich zum Balzverhalten dazu); es war moralisch falsch, was die Person gemacht hat. Jetzt habe ich den Anspruch darauf, dass diese Person dafür auch öffentlich bestraft wird.

Ein anderes Phänomen ist die Vermeidung, ja Unterdrückung von bestimmten Begriffen. So liest man zum Beispiel dieser Tage, dass Udo Lindenbergs Lied „Sonderzug nach Pankow“ nicht von Chören gesungen werden darf. Die wollen den „Oberindianer“ durch „Ober“, ein langes „O“und dann ein langes „I“ dehnen. Sie werden das Wort nicht aussprechen. Und da fand ich ganz witzig, dass Wolfgang Niedecken dazu anmerkt, sie hätten als Kinder nicht „Cowboy und indigenes Volk“ gespielt, sondern „Cowboy und Indianer“.

Das ist mein Lieblingsbeispiel, weil es nachweislich falsch ist. Es gibt natürlich einige verunglimpfende Kulturpraktiken, auch Begriffe oder Wörter, die wir heute zu Recht nicht mehr verwenden, weil sie einfach beleidigend sind. Aber Indianer gehört nun absolut nicht dazu. Die größte Interessenvertretung der Indianer in Amerika heißt National Congress of the American Indians. Das Büro, das dem Innenministerium unterstellt ist, heißt Office of Indian Affairs. Indianer in den in den USA bezeichnen sich zum Großteil lieber als American Indians als als Native Americans, obwohl viele beide Ausdrücke gar nicht verwenden, sondern einfach sagen, zu welchem Stamm sie gehören. Aber American Indian ist nachweislich beliebter. Ich habe das auch noch mal für mein Buch recherchiert; also American Indian ist der absolute Standardbegriff in allen Forschungsartikeln, die man nachlesen kann bis heute. Wenn das wirklich falsch wäre, hätte man da auch mal was ändern müssen. Das zeigt also, dass wir ein vollkommen falsches Bild davon haben, wer da vermeintlich beleidigt wird. Keinen vom Stamm der Dakota in den USA stört es, wenn ein Kind beim Karneval in Köln mit einem Indianerkostüm auftritt. Aber wiederum sieht man, es geht nicht darum, Indianer zu schützen, sondern es geht darum, das richtige Signal zu senden.
Und noch genauer: es geht noch nicht einmal darum, dass die Leute wirklich glauben, dass das schlimm ist, sondern sie wollen sich versichern. Bei der Moral ist es nämlich so, dass es gar nicht so sehr darum geht, zu zeigen, wie gut man ist, sondern man will sich eher gegen den Schaden, also die Kritik von anderen, immunisieren. Es wäre halt schlimm, wenn die andere Mutter über einen reden, dass das eigene Kind als Indianer gegangen ist. Und um das auszuschließen, macht man es lieber nicht. Es geht um die Versicherung und nicht darum, wirklich etwas Gutes zu tun. Eine solche Immunisierung ist keine Versicherung gegen einen moralischen Schaden, (der nachweislich nicht entstanden ist), sondern gegen einen Reputationsschaden.

Das erinnert mich an Praktiken aus den 60er Jahren, als die Studentenbewegung für die Arbeiterklasse gesprochen hat, ohne sie richtig zu kennen. Insofern kann man vielleicht sagen, dass heute bildungsbeflissene deutsche Elternhäuser über eine Gruppe von exotischen Völkern spricht, die sie auch nicht kennen.

Ja, ich glaube, das kann man verallgemeinern. Wenn wir Urteile fällen über andere Gruppen, überhaupt über Gruppen, selbst über unsere eigene, sind die meistens verzerrt. Viele Untersuchungen zeigen, wir schätzen unsere eigene Gruppe, zum Beispiel unser eigenes politisches Lager, als radikaler ein, als es tatsächlich ist. Wir haben eine vollkommen falsche Wahrnehmung davon, wie groß Gruppen tatsächlich sind, weil wir natürlich die Größe dieser Gruppen gar nicht kennen. Das ist statistisches Wissen, das können wir nicht generalisieren, wenn wir fünf Leute getroffen haben.

Ich gebe mal zwei Extrembeispiele, woran man das gut sehen kann. Das eine ist das Beispiel Latinx, das habe ich auch im Buch verwendet. In Amerika sagen an den Universitäten die Aktivisten, wir sollen nicht mehr Latino/Latina sagen, weil das auch vermeintlich diskriminierend sei, sondern Latinx. Das x steht für alle Gender-Identitäten. Fragt man in den USA Hispanics oder Latinos „kennt ihr diesen Ausdruck Latinx?“, sagen 75 % „nein, ich habe noch nie davon gehört.“ Also es geht vollkommen an der Lebensrealität vorbei. Nur 3 % aller Leute mit lateinamerikanischen Wurzeln verwenden ihn wirklich zur Selbstbezeichnung.  Das sind Akademiker, die oft zur Elite gehören, die gehen an Eliteuniversitäten, die werden später zur Einkommenselite am Arbeitsmarkt gehören. Das heißt, es ist eine Elitensprache, die überhaupt nichts mit der Realität der Mehrheit der Bevölkerung zu tun hat.
In Deutschland gibt es eine repräsentative Umfrage von Viola Neu, vor zwei, drei Jahren von der Konrad Adenauer Stiftung, zu der Frage „Wer wählt eigentlich die AfD?“ Man hat auch Leute gefragt mit Migrationsgeschichte, (das wird normalerweise in Deutschland nicht abgefragt), sowie solche, die keine deutschen Staatsbürger sind, also nicht wählen können: „Was würden Sie wählen, wenn Sie wählen könnten?“
Und da kam raus, dass der Migrationsanteil der AfD-Wähler etwas höher war als der Durchschnitt. Jetzt denkt man, das kann eigentlich nicht sein. Die AfD ist doch die Partei, die ganz stark gegen Migration ist, eine in Teilen auch völkisch-fremdenfeindliche, ausländerfeindliche Partei mit eindeutigen Parolen. Aber interessanterweise kommt in Deutschland ein großer Teil der Menschen mit Migrationsgeschichte aus Osteuropa, und die wählen, wenn sie könnten oder wenn sie würden, überproportional häufig AfD; vor allem die, die einen Bezug zu Russland haben, also Russlanddeutsche sind.
Aber natürlich denken die eher akademischen, sehr linken Aktivisten oft, die Migranten seien genauso politisch verortet wie sie. Das stimmt natürlich nicht, weil es eine riesige, vollkommen heterogene Gruppe ist, die aus der ganzen Welt kommt, mit ganz verschiedenen Moral- und Wahlvorstellungen. Deshalb muss man sich davor hüten, zu schnell solche Gruppengeneralisierungen zu treffen und sich lieber die Daten und Statistiken anschauen. Und wird dann oft überrascht.

Vielleicht abschließend eine Beobachtung, mehr auf die Musikszene bezogen. Gerade im Jazz wird seit vielen Jahren der geringe Frauenanteil beklagt. Der ist immer noch gering, hat sich aber doch signifikant verändert. Wir werden nach meinem Dafürhalten in wenigen Jahren erleben, dass der Hauptteil des Funktionärswesens in Deutschland, was Jazz betrifft, also Veranstalter, Redakteure etc., weiblich sein wird. Meine Vermutung oder vielleicht auch Verdacht ist, dass im Zuge dieser doch inzwischen großen Minderheit man sich auch einsetzt für andere Minderheiten, die wesentlich kleiner sind. Stichwort Intersektionalität. Der Diskurs im Jazz wendet sich nach meinem Eindruck sehr stark ab von der Frage: Was ist Jazz? Was wird überhaupt musikalisch diskutiert?

Typisch zum Beispiel, dass hier in Berlin zum Jazzfest 2024 kaum musikalische Aussagen im Festivalheft erfolgen, sondern alles aus Szeneaussagen besteht. Die Frage ist immer: wer ist auf der Bühne, und wer ist nicht auf der Bühne? Das ist heute eine ganz entscheidende Frage geworden. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir eine stärkere und auch erfolgreiche Feminisierung haben, in deren Gefolge jetzt auch andere Minderheiten – möglicherweise auch ohne jede Aussicht, proportional zu berücksichtigt zu werden – sozusagen in den Vordergrund gerückt werden, zumindest diskursiv ihre Anteile haben?

Ja, ich glaube, es sind zwei Bewegungen. Zum einen gab es bis vor gar nicht allzu langer Zeit klare Formen der Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt. In der Musik hat das Claudia Goldin, die den Nobelpreis bekommen hat vor ein oder zwei Jahren, deutlich nachgewiesen. Man hat das zum Beispiel durch Orchester-Vorspiele zeigen können. Wenn man in persona vorspielt, wurde die Frau seltener genommen als wenn sie hinter einem Vorhang vorgespielt hat. Bei den klassischen Orchestern konnte man das gut testen. So konnte man eine Form von Diskriminierung minimieren. Und das kann man in vielen Branchen zeigen.
Aber oft ist es am Arbeitsmarkt  inzwischen nicht mehr so ist, dass Frauen zumindest bei der Einstellung benachteiligt werden, sondern in Deutschland werden seit einigen Jahren Männer benachteiligt bei gleichem Lebenslauf. Da werden so fiktive Lebensläufe verschickt. Das hat auch eine große Metastudie gezeigt, wonach etwa seit 2009/2010 das weltweit gekippt ist, dass also tendenziell, wenn diskriminiert wird, dies eher Männer als Frauen trifft. In Einzelfällen gibt es das natürlich immer noch, das ist vollkommen klar, das kann man nicht ausschließen. Und Feminisierung ist, glaube ich, das richtige Stichwort. Im Zuge der Feminisierung ist es auch erst mal erst mal bewusst geworden, es gibt diese Form der Diskriminierung.
Jetzt gibt es natürlich den zweiten Effekt, dass man auch wiederum Signale senden möchte. Wenn jetzt auf der Bühne drei Männer und eine Frau stehen: könnte es sein, dass das Ausdruck der Diskriminierung ist, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen? Aber es könnte auch einfach an unterschiedlichen Interessen liegen. Ich weiß nicht, wie es beim Jazz ist, aber in bestimmten Branchen haben Männer ein höheres Interesse, in anderen Branchen Frauen. Also man wird mehr Apothekerinnen finden, weil Pharmazie einfach mehr Frauen studieren. Man wird mehr Elektro-ingenieure finden, weil das einfach mehr Männer studieren. Das hat nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern es ist einfach Präferenz.
Jetzt habe ich aber diese Situation: drei Männer, eine Frau, das ist ein mehrdeutiges Signal. Es könnte sein, dass alles in Ordnung ist und niemand diskriminiert wurde. Aber auf den ersten Blick, ohne nachzuforschen, wirkt es eindeutig so, dass die Männer bevorzugt werden. Ich möchte jetzt aber als Veranstalterin ein klares Signal senden. Dann sollte ich möglichst versuchen, zwei Männer, zwei Frauen auf die Bühne zu stellen. Oder wenn ich Bands einlade oder Solomusiker, dass das ungefähr paritätisch ist, dann scheint es zumindest so auszusehen, als ob es fair sei. Muss aber nicht so sein.
Aber der Input eignet sich nicht für ein Moralspektakel, denn dem nachzugehen, dauert zu lange. Da muss ich eine Geschichte erzählen, nach welchen Kriterien ich ausgewählt habe. Der Output, den sehen die Leute sofort,  auf der Bühne kann ich sofort sehen: aha Mann, Frau, Frau, Frau, Mann, Frau. Das heißt, wer an einem Moralspektakel oder an einer moralischen Selbstdarstellung, erst mal etwas neutraler formuliert, interessiert ist, wird immer den Output betonen. Und das ist einer der Gründe, warum man natürlich will, dass möglichst repräsentative Gruppen auf Bühnen stehen, die die Bevölkerungsmehrheit repräsentieren. Obwohl das natürlich ein absurdes Unterfangen ist, weil wir einfach wissen, dass Interessen ungleich verteilt sind. Man wird für bestimmte Branchen einfach viel seltener Männer finden, für andere Branchen viel seltener Frauen. Und für bestimmte Branchen wird man seltener Leute mit Migrationsgeschichte finden. Wenn man das alles berücksichtigen will, wird man eher ungerecht sein, nur um den Schein der Gerechtigkeit und der Fairness der Diversität hochzuhalten.

Wer dieses Interview liest, wer nichts über den Autor weiß und auch das Buch nicht kennt, der könnte sagen: ja, der Philipp Hübl hat gut reden. Woher weiß er denn das alles?

Gerade weil ich diesen Fehler beobachtet habe, dass wir Gruppen und Situationen falsch einschätzen, habe ich versucht, in meinem Buch alles datenbasiert zu machen. Also ich habe mir die größten Metastudien, die großen repräsentativen Umfragen angeschaut, die besten Daten, die man kriegen kann. Oft gibt es da noch große Lücken. Man hat nicht für alles Daten. Es gibt vieles, was noch erforscht werden muss. Aber gerade die Sachen zum Arbeitsmarkt sind wirklich sehr, sehr gut erforscht, weil das natürlich seit Jahrzehnten ein großes Ungerechtigkeits-thema ist, was die Leute beschäftigt. Und da gibt es, glaube ich, eine ziemlich klare Forschungsmeinung, Wenn man sich die allergrößten Untersuchungen anschaut, demnach ist es nicht mehr so, dass zumindest bei der Einstellung diskriminiert wird. Es gibt andere Formen, wo Frauen deutlich stärker diskriminiert werden als Männer, wenn sie zum Beispiel Kinder kriegen in ihrem Job. Aber bei der Einstellung ist das mittlerweile nicht mehr der Fall.
Und zur Kulturbranche; auch da weiß man, dass die Leute nicht so sehr danach gehen, wenn es keine klaren Kriterien gibt, wer ist jetzt hier der beste, die beste Kandidatin für den Preis oder für das Stipendium? Objektiv kann man sowieso nicht vergleichen. Die Leute sind etwa alle gleich gut, oder sie sind so verschieden, dass wir gar nicht sagen können: wer ist jetzt besser oder schlechter. Es geht dann am Ende auch darum: was sagen die anderen über uns, wenn wir diese Personen fördern oder einstellen?
Und dieser Spruch „Wir haben zu viele weiße Cismänner“: ich habe den selbst in meinem Umfeld gehört, ich bin ja selbst in der akademischen Klasse, ich  war bei Preisverleihungen, ich kenne die Hintergründe auch in den Universitäten. Das spielt immer auch eine Rolle, obwohl es natürlich eine absurde Forderung ist, weil 99,9 % sind Cis. Cis heißt, dass ich mich identifiziere mit dem biologischen Geschlecht, dass mein soziales Geschlecht mit meinem biologischen übereinstimmt. Das ist bei über 99,9 % aller Menschen der Fall. Es gibt ganz wenige Fälle, wo Leute eine Transidentität haben, also wo das nicht synchron läuft.
Über 90 % aller Menschen sind heterosexuell, wahrscheinlich 95 %, je nachdem, wie man zählt. Also auch das ist ein Vorwurf, den man sozusagen immer anbringen kann, weil die Gruppen mittlerweile so klein sind, die man da fördern will. Und natürlich stimmt es, dass Minderheiten diskriminiert werden. Aber es stimmt auch nicht, dass sie so stark diskriminiert werden, dass ihnen bestimmte Jobchancen oder Chancen am Wohnungsmarkt oder so verwehrt geblieben sind. Die Diskriminierung ist oft nachweisbar, aber der Effekt ist oft nicht so groß, dass man sagen kann, mit der dunklen Hautfarbe kriegt man keine Wohnung. Faktisch muss man etwas häufiger Lebensläufe schicken. Das ist tatsächlich ungerecht. Das sagt auch eindeutig das Grundgesetz. Das muss man auch bekämpfen. Das muss man verhindern; es ist auch moralisch falsch, Leute aufgrund der Hautfarbe zu diskriminieren. Aber es ist nicht so, dass man deshalb keine Wohnung bekommt. Man muss halt ein bisschen länger suchen.

Vielleicht als letztes; auf der Fahrt hierher bin ich mehrfach an dem Filmplakat vorbeigekommen, Jan Josef Liefers, „Alter weiße Mann“. Interessanterweise gibt es auch im Buch etwas zur Statistik der alten weißen Männer, nämlich dass der Rassismus in den Ländern, in denen die alten weißen Männer leben, weitaus geringer ausgeprägt ist als in den Ländern, in denen nicht-weiße, ältere Männer leben.

Das ist auch ein Beispiel für eine Fehlwahrnehmung. Wenn ich mich nur in Deutschland  umschaue, dann kann ich natürlich sagen: „Ja, in Deutschland ist im Mittel jemand, der etwas älter ist, auch etwas konservativer, vielleicht auch ein bisschen chauvinistischer oder, sagen wir mal traditionalistischer, was Genderrollen betrifft“. Das ist einfach so. Je jünger die Generation, desto liberaler, weltoffener und feminisierter ist sie.
Aber sobald man den weltweiten Vergleich macht, stimmt das natürlich nicht. Bei allen großen Werte-Untersuchungen sind die westlichen Länder ganz weit vorne, was Weltoffenheit betrifft, also: pro Einwanderung, pro Minderheiten-rechte, für die Gleichstellung von Mann und Frau. Das sind alles sehr, sehr hohe Werte für die Mehrheit der Menschen. Auch was Gewalttätigkeit betrifft, die Werte sind sind am niedrigsten in diesen Ländern.
Wohingegen die Männer besonders sexistisch sind, besonders gewalttätig, besonders traditionell und die Vorstellung haben, der Mann habe das Sagen in der Politik, in der Familie – das sind nun gerade die Länder, wo die Menschen nicht weiß sind. In einem Großteil der Welt haben die Menschen eine dunklere Hautfarbe.
Deshalb sieht man schon, dass diese Einteilung in „alte weiße Männer“ der der falsche Stellvertreter ist. Man will ja eigentlich den Stellvertreter bekommen für Menschen mit sexistischem, autoritärem Verhalten. Aber anstatt zu sagen, wir konzentrieren uns auf die, weil wir sexistisch-autoritäres Verhalten nicht dulden (was es natürlich es auch bei Frauen gibt) – wird das umgedeutet in Hautfarbe, weil man die Hautfarbe wiederum wieder schnell erkennen kann. Mit dem paradoxen Effekt, dass man dann ja auch so was sagen kann wie „ja, habe ich auch schon gelesen. Alice Schwarzer ist ja eigentlich auch ein alter weißer Mann“. Dass sie für die Frauenrechte gekämpft hat, vor 30, 40 Jahren, spielt dann keine Rolle mehr,  sie hat  halt dann zu irgendeinem Thema etwas gesagt, was den modernen jüngeren Feministinnen vielleicht nicht gefallen hat.
Und daran sieht man, dass dieser Begriff „alter weißer Mann“ deshalb nicht brauchbar ist, weil man eigentlich etwas anderes kritisieren will. Dann sollte man es aber auch genau benennen und einfach sagen: „wir kritisieren Leute, die vielleicht illiberal sind oder menschenfeindlich oder fremdenfeindlich, traditionalistisch oder konservativ“, was auch immer. Dafür gibt es bessere Begriffe, als das an der Hautfarbe festzumachen.

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