Michael Rüsenberg im Gespräch mit dem Philosophen Philipp Hübl
Berlin, 4. November 2024
MiRü: Bevor wir zu dem Buch kommen. Moral, Ethik und unsere Moral im Alltag, wie hängen die Dinge zusammen? Ist Ethik der höher angesiedelte, der wissenschaftliche Begriff zu Moral? Und dann die Alltagsmoral gewissermaßen ganz unten, wortwörtlich, also Graswurzel-Moral?
Philipp Hübl: Damit sind erst mal unsere Werte und Normen gemeint, also was wir für Gut und Böse erachten und was wir glauben, was wir tun sollen. Jeder Mensch hat eine Moral. Man könnte sie die Alltagsmoral nennen. Dagegen ist Ethik die Wissenschaft der Moral, eine Teildisziplin der Philosophie. Man versucht in der Ethik, unsere Urteile im Alltag von allgemeinen Prinzipien abzuleiten. Unsere Alltagsmoral stimmt manchmal mit einer universellen Ethik überein. Wir halten uns zum Beispiel mehr oder weniger schon irgendwie an die Menschenrechte. Wir glauben, man sollte Menschen nicht töten, man sollte nicht stehlen und so weiter.
Doch im Alltag fallen wir oft hinter dieses Ideal einer universellen Ethik zurück, weil wir zum Beispiel unsere eigene Gruppe für moralischer halten als fremde Menschen. Wir sind auch nicht so gerecht, wie wir das selbst erwarten. Wir denken selten so wie ein Richter oder eine Richterin, die abwägen und nach allgemeinen Prinzipien urteilen (die Rechtsprechung ist ein Beispiel für eine formalisierten Ethik).
Stattdessen sind wir Stammesmenschen geblieben. Wir bevorzugen unsere eigene Gruppe und sind bei den Taten unserer Verwandten und Freunde nicht sonderlich streng.
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Das Buch trägt den Titel „Moralspektakel“, und es gibt dazu eine greifbare Formel: „Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel“. Ist das eine völlig neue Entwicklung oder gibt es da Vorläufer dazu?
Das gab es schon immer. Weil uns Moral am Herzen liegt und dafür da ist, unser Zusammenleben zu regulieren, können wir moralische Urteile auch verwenden, um etwas über uns zu auszusagen. Moralische Urteile haben immer auch eine soziale oder kommunikative Funktion. Wir stellen uns darüber dar. Das haben Menschen immer gemacht. Wir kennen extreme Formen, zum Beispiel aus der Religion. Die Pharisäer sind sprichwörtlich geworden, weil sie so getan haben, als seien sie besonders gläubig und fromm, aber es in Wirklichkeit natürlich nicht waren. Moralisten, also Leute, die sich besonders tugendhaft geben, Frömmler, Tugendprotze, Prinzipienreiter, die hat es immer gegeben.
Meine These ist jedoch, dass diese kommunikative soziale Funktion durch die sozialen Medien verstärkt wird, weil wir nicht mehr in einer kleinen Gruppe leben, in der sich die Leute untereinander kennen, sondern weil wir jetzt, wenn wir öffentlich auftreten, in den sozialen Medien, auf Webseiten, in Interviews, plötzlich von der ganzen Welt beurteilt werden können. Wenn wir das wissen, dass uns potenziell jeder beurteilen kann, müssen wir stärkeres Reputationsmanagement betreiben. Wir müssen uns überlegen: „kann ich vielleicht falsch verstanden werden, weil ich was Unklares oder Mehrdeutiges sage?“
Aber umgekehrt sind wir auch verführt, uns als etwas moralischer und besser, vielleicht sensibler zu präsentieren als wir tatsächlich sind– oder eben vielleicht auch als härter, traditionalistischer, gläubiger, je nachdem, wo wir uns moralisch und politisch verorten.
Es nutzen ja nicht alle die digitalen Medien, so wie sie beispielsweise in den offiziellen Medien, auch in der Tagesschau, zitiert werden: „bei Facebook liest man dieses, bei X jenes“. Ich zum Beispiel nehme überhaupt nicht daran teil, obwohl ich mich natürlich auch digitaler Medien bediene. Was ist mit denen, die zum Beispiel weder bei Facebook noch bei X noch sonst irgendwelchen Messengerdiensten, außer sagen wir mal Signal, tätig sind? Sind auch wir irgendwie betroffen von dem Ganzen, oder geht es an uns vorbei?
Es mag sein, dass es manchmal an der Wahrnehmung der Menschen vorbeizieht. Aber ich glaube, sie sind auch betroffen. Wer etwas publiziert, sei es eine Kolumne in der Zeitung oder nur eine Pressemitteilung für eine Firma, der steht damit in der Öffentlichkeit. Selbst wer keine sozialen Medien nutzt, muss damit rechnen, dass eine Aussage von anderen Leuten zur moralischen Selbstdarstellung verwendet wird, vor allem als Anlass für Empörung.
Das ist das typische Mittel der Selbstdarstellung. Wenn ich zeigen möchte, dass ich besonders sensibel bin bei einem bestimmten Thema, dann rege ich mich über andere auf. Denn so wirke ich nicht eitel, indem ich von mir selber sage, wie unglaublich feinfühlig und gerechtigkeitsliebend ich doch bin, sondern ich zeige, indem ich mich über andere aufrege, indirekt dass mir ein Wert am Herzen liegt. Selbst Leute, die keine sozialen Medien nutzen, werden wiederum in den sozialen Medien diskutiert und kommentiert. Das muss man immer einpreisen.
Nun gab es ja moralische Handlungsagenturen immer schon. Ich denke zum Beispiel an den Stammtisch. Was ist der Unterschied zwischen dem Stammtisch und den heutigen digitalen Medien, wo ähnliche Meinungen in gewissen Blasen, nennen wir es mal so, geäußert werden?
Ja, man kann sagen, der Stammtisch war und ist eigentlich eine typische Form der Echokammer. Eine kleine Gruppe von Leuten mit ähnlichen Meinungen treffen sich und tauschen sich aus. Wenn da jemand etwas Ironisches sagt, einen Witz macht, vielleicht auch mal übertreibt oder den Ton nicht trifft, dann trägt man es ihm nicht nach, denn es kennen sich ja alle untereinander. Man weiß, da hat er sich einfach nur versprochen. Oder wenn nicht, ignoriert man die Dummheit oder gibt ihm oder ihr die Möglichkeit, sich zu entschuldigen. Gerade weil sich alle untereinander kennen, muss man nicht ständig Reputationsmanagement betreiben und nicht immer wieder unter Beweis stellen, dass man auf der richtigen Seite steht.
Wenn man den Stammtisch jetzt auf die ganze Welt ausweitet, hat man potenziell unendlich viele Leute, die einen nicht kennen, für die man vollkommen anonym ist. Die könnten einen jetzt falsch verstehen. Und wie wir wissen, sind die digitalen Medien kontextarm. Das heißt, wir sehen nur wenige Sätze. Wir kennen weder den Kontext, noch den kommunikativen Hintergrund, und wir wissen auch nichts über die Absichten des Sprechers.
Es wird also viel falsch verstanden, und dann wollen einige Leute einige Dinge noch absichtlich falsch verstehen, Und das bringt diese neue Qualität in die öffentliche Diskussion, dass wir uns gegen Fehlinterpretationen versichern müssen. Sobald wir das tun, müssen wir klare Signale senden. Ich glaube, das ist der Hauptgrund, warum Leute Mehrdeutigkeiten oder Ungenauigkeiten meiden; vielleicht auch zu einem Thema lieber gar nichts sagen, weil man einfach zu weit ausholen müsste, um nicht falsch verstanden zu werden.
Oder umgekehrt, warum sie diese überdeutlichen Signale senden, also sich über kleinste Kleinigkeiten aufregen, die niemanden je gestört haben, Fälle, bei denen gar keine Normverletzung vorliegt, nur um damit wiederum zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Moralische Äußerungen sind nicht nur dafür da, das Zusammenleben zu regulieren, sondern sie sind natürlich auch Gruppensignale. Man zeigt damit „ich gehöre zu euch, ich rege mich über diesen und jenen Außenstehenden auf“.
Apropos Gruppenzugehörigkeit, das Buch legt den Eindruck nahe, dass die kreative Klasse – Michael Rutschky hätte von „den kreativen Kadern“ gesprochen – besonders anfällig ist für das, was dem Buch zum Titel wurde, nämlich für Moralspektakel. Das mag zunächst einmal überraschen, weil man doch denkt: das sind die Gebildeten, die Aufgeklärten, die Selbstreflektierten.
Genau das ist die These. Ich glaube, man kann dafür viele Hinweise finden, dass Akademiker – vor allem diejenigen, die in der kreativen Klasse arbeiten, also in den Medien, der Kultur, in den Universitäten und innovativen Unternehmen – besonders oft ein Moralspektakel aufführen. Das hat verschiedene Gründe. Erstens benötigt man „kulturelles Kapital, also eine gewisse Bildung und Kenntnis vom neuen progressiven Moralvokabular, zum Beispiel, ob man noch LGBT oder schon LGBTQAI+ sagt.
Und ein zweiter Grund ist (und das kann man auf der ganzen Welt beobachten): Nur wenn große Missstände aus dem Weg geräumt sind, man keine wesentlichen materiellen Sorgen mehr hat, dann kann man sich um kleinere moralische Probleme kümmern, die es immer noch gibt, die aber dann oft auf einer symbolischen oder sprachlichen Ebene stattfinden.
Wer dagegen tagaus, tagein dafür sorgen muss, dass die Kinder genug zu essen haben (das gilt jetzt nicht nur für einige Menschen im Westen, sondern vor allem für den Rest der Welt), der wird sich nicht noch darum Gedanken machen, ob die Nachbarin richtig gegendert oder einen schlechten Witz gerissen hat. Anders ausgedrückt: Erst wenn es kaum noch Makroaggressionen gibt, spricht man über Mikroaggressionen, zu denen angeblich auch Komplimente für Schuhe gehören können.
Erst wenn es einem gut geht, beginnt man, diese Kleinigkeiten in den Vordergrund zu schieben und benutzt sie dann auch gleich als Distinktionsmerkmal. Ich glaube, das ist eine wichtige Beobachtung, dass ein bestimmtes moralisches Auftreten auch zum dem gehört, was Pierre Bourdieu den „Habitus“ nennt, auch wenn er selbst das nicht so klar gesehen hat. Also wir grenzen uns nicht nur durch unseren Geschmack ab, dadurch, dass wir uns ästhetisieren und Bach oder Free Jazz hören, sondern eben auch dadurch, dass wir die richtigen moralischen Einstellungen haben und die richtigen Worte kennen.
In dem Buch habe ich auch einen Hinweis darauf gefunden, dass gerade in der kreativen Klasse, von der wir sprechen, die Arbeitsverhältnisse anders organisiert sind als, sagen wir mal, in der Industrie, in großen Unternehmen; nämlich dass zwischen Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen häufig kein Unterschied besteht, und man mit denen, mit denen man zusammenarbeitet, zumindest tendenziell leicht befreundet ist. Ist das auch ein Aspekt in diesem Thema, was wir hier diskutieren?
Ja, wenn Menschen befreundet sind, konkurrieren sie normalerweise nicht auf einer Berufsebene. Und wenn sie beruflich zusammenarbeiten, dann sind sie normalerweise nicht enge Freunde. Wird beides vermischt, entsteht eine angespannte Situation. Im Englischen nennt man diese Personen „Frenemies“, zusammengesetzt aus „Friend“ und „Enemy“. In der kreativen Klasse ist diese Konstellation nicht unüblich. Man ist befreundet, lebt im selben Milieu, aber konkurriert gleichzeitig auch in bestimmten Berufsfeldern, zum Beispiel um dieselben Stellen, dieselben Preise, um Anerkennung, oder eben am freien Markt um Aufmerksamkeit.
Und immer, wenn Menschen im Konkurrenzkampf stehen (oder allgemeiner: im Statuskampf) – dann laufen alle möglichen sozialen Mechanismen ab. Besonders typisch ist natürlich, dass man neidisch ist, wenn jemand anders Erfolg hat; davon können wir uns gar nicht freimachen. Neid als Statusemotion hatte in Urzeiten eine positive soziale Funktion, denn er hat das Zusammenleben reguliert. Wenn jemand in der Gruppe zu viel hatte, waren die anderen neidisch; wenn jemand zu wenig hatte, hatten die anderen Mitgefühl. Beide Emotionen sind zwei Seiten einer Medaille, denn sie machen Menschen eher geneigt, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, sich also für Umverteilung und Basisdemokratie einzusetzen. Abstrakte Gerechtigkeitsüberlegungen haben in Experimenten kaum einen Effekt.
Neid kann auch destruktiv sein, und uns den Wunsch entstehen lassen, die anderen, die erfolgreicher sind, von ihrem hohen Ross herunterzuholen. Wir wollen den Abstand zum Konkurrenten verkleinern. Und weil wir nicht auf der Ebene der Fähigkeiten, des Talents mitziehen, also durch eigene Kraft den Abstand verringern können, ist es dann oft leichter, auf die Moralebene zu wechseln, Und die Moralebene hat in diesem Statuskampf den Vorteil, dass wir durch Kritik oder Anwürfe jemanden beschädigen können und dafür nicht großen Aufwand leisten müssen. Und deshalb gibt es immer diese Verlockung im Konkurrenzkampf, Moral auch als Waffe einzusetzen.
Welche Rolle spielen die sogenannten Buzzwords darin oder Schlüsselwörter? Man hat den Eindruck, dass häufig nur auf diese reagiert wird, ohne den Kontext zu beachten und sofort mit Schlüsselbegriffen, nämlich mit pejorativen, mit Verurteilungen wie zum Beispiel Rassismus, geahndet wird.
Das gesamte moralische Vokabular – dazu gehören „Rassismus“, „Antisemitismus“, „Homosexuellenfeindlichkeit“ usw., aber auch ein neues moralisches Vokabular wie „Intersectionality“, „toxische Maskulinität“, „victim blaming“ usw. – ist vor zehn Jahren in der Frequenz hochgeschossen, und zwar in allen großen Medien auf der Welt und in allen wissenschaftlichen Publikationen. Und man könnte jetzt sagen, das liegt vielleicht daran, dass die Menschen moralisch sensibler geworden sind. Das stimmt auch zu einem gewissen Grade.
Aber ich glaube, es gibt einen zweiten, stärkeren Faktor, nämlich dass dieses Vokabular oft unklar definiert ist und nicht mehr verwendet wird, um wirkliche Missstände zu bekämpfen, sondern wiederum, weil es für die Selbstdarstellung und im Statuskampf leicht eingesetzt werden kann.
Die meisten Leute kennen die exakte Bedeutung der Begriffe nicht, aber sie wissen, a), sie senden die richtigen Signale an ihre progressive Gruppe, wenn sie lieber einmal mehr als einmal zu wenig von Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung sprechen und b), man kann mit den Buzzwords in Diskussionen triumphieren und ziemlich leicht jemanden moralisch angreifen, denn die angemessen Verteidigung ist deutlich aufwändiger.
Es ist leichter zu sagen „das, was du gesagt hast, ist rassistisch“, als für den anderen zu erklären, warum es nicht rassistisch ist. Und weil der Angriff so schwer wiegt, ist es einfach verlockend, früher oder später diese Taktik zu verwenden. Es ist vergleichbar mit einem anderen altbewährten Manöver, nämlich „meine Gefühle wurden verletzt“. Das kennt man von früher noch aus den Diskussionen um den Glauben. Leute, die religiös waren, haben, wenn ihnen die Argumente ausgingen, gerne auf Kritik damit reagiert, dass sie meinten, ihre „religiösen Gefühle wurden verletzt“. Gefühle sind subjektiv, man kann sie von außen nicht kritisieren oder als falsch erweisen – daher ist der Rückgriff auf Gefühle eine ideale Immunisierungstaktik. Und deshalb hat sich das Manöver durchgesetzt.
Und etwas sehr Ähnliches erleben wir jetzt auch, dass man sagt, ich fühle mich diskriminiert oder zurückgesetzt oder „was du tust, ist sexistisch, rassistisch“ oder in irgendeiner anderen Weise „menschenfeindlich“. Weil der Vorwurf schon so schwer wiegt, fordern die Leute dann selten auch die Beweise ein. Normalerweise müsste man bei so einem schweren Vorwurf ja sagen „hier sind die Belege!“ ähnlich wie bei „Du bist ein Dieb“ oder „Du bist ein Betrüger“.
In einem Vorgespräch hatte ich die UdK erwähnt, also Universität der Künste hier in Berlin. Sie haben dort drei Jahre gelehrt, Philosophie unterrichtet, und ich hatte den Eindruck, ich stoße mit meinem Hinweis geradezu ein Scheunentor auf.
Ja, natürlich sind das Moralspektakel und dieses sehr progressive moralische Vokabular an bestimmten Orten besonders virulent. Das sind die Orte, die ohnehin sehr progressiv sind, wo die Leute sehr weltoffen und sehr liberal sind, beispielsweise die Kunstuniversitäten, die Theaterszene, die Musikszene. Da sind die Leute ganz besonders sensibilisiert für Missstände. Ironischerweise sind das aber auch die Orte, wo sich Leute gegenseitig am stärksten diese schlimmen Formen der Menschenfeindlichkeit vorwerfen.
Als ich als Gastprofessor an der UdK anfing, habe eine E-Mail bekommen, in der stand, in der UdK gebe es „tief verankerte Strukturen der Benachteiligung“. Wenig später wurde ich wie alle Mitglieder der Uni zum internen Antirassismus-Workshop eingeladen, der mit der These angepriesen wurde, unsere Gesellschaft sei „durch Rassismus geprägt“. Worin genau diese Prägung und diese Strukturen bestehen, wurde uns nicht mitgeteilt. Als ich nachgefragt habe, ob es konkrete Vorfälle in der Uni gegeben habe, konnte mir niemand welche nennen.
Und natürlich sind die Studenten auch untereinander so weltoffen, so liberal und auch international und divers, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann.
Die echten Menschenfeinde sitzen wo ganz anders, eben gerade nicht in den Universitäten. Anstatt sich auf die zu konzentrieren, fragt man sich dann eher „Aha, im Nachbarbüro, hat die Kollegin das richtige Wort verwendet? Oder im Atelier nebenan hat der Student da vielleicht das falsche Bild auf die Leinwand gemalt?“
Das sind dann wieder diese winzigen Binnendifferenzen. Freud sagt „der Narzissmus der kleinen Differenz“ Man müsste eigentlich sagen „der allerkleinsten Differenz“. Aber auch hier geht es am Ende um Karriere und Aufmerksamkeit. Es sind wieder Leute, die in derselben Branche arbeiten, ungefähr denselben Status haben. Und da wird der Konkurrenz- und Statuskampf automatisch immer wieder aktiviert.
Dieser Konkurrenz- und Statuskampf hat ja auch eine ganz stark diskriminierende Komponente. Ich erinnere zum Beispiel an einen Vorfall, wo eine ehemalige Studentin an der UdK einen Instrumentalprofessor bezichtigt. Und wenn man die Vorwürfe klassifiziert, kommt man nicht umhin zu sagen: das ist nichts anderes als eine amour fou. Die gibt es bestimmt nicht nur an der UdK, sondern auch in vielen anderen Institutionen. Nur wurde dieser Fall, deutlich unterhalb des Justiziablen, aufgebrezelt durch falsches Zitieren aus einer Studie, sodass es heißt: ich bin so behandelt worden, wie das Modell zweier New Yorker Psychologinnen darlegt. Interessanterweise wird diesem Falle der Titel der Studie nicht zitiert. Dort taucht nämlich der Begriff „child molesters“ auf; mithin Kinderschänder. Hier hat eine erwachsene Frau eine gescheiterte Liebschaft mit einem Vokabular „analysiert“, das eigentlich auf Kinderschänder gemünzt ist. Referenz war ein empirisches Modell für eine bestimmte Opfergruppe, ohne dies kenntlich zu machen. Das ist für mich ein ganz krasser Fall eines solchen Geschlechterkampfes.
Ich kenne die Details dieses Falles nicht, aber wenn man sich das jetzt mal allgemein anschaut, ist natürlich klar, dass wir im Alltag ständig Konflikte aushandeln. Ob im Beruf oder im Privatleben, es gibt immer Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen; manchmal verhalten sich Menschen auch schlecht.
Und gerade in den Bereichen, in denen wir weit unterhalb der Strafbarkeit liegen, haben wir kaum Sanktionsmöglichkeiten. Nehmen wir den Fall einer Trennung; wir sind traurig, enttäuscht, wütend, fühlen uns zurückgesetzt. Wir würden gerne den Ex-Partner, die Ex-Partnerin für die Trennung bestrafen, können das aber nicht. Da erscheint es verlockend, ein Vokabular zu verwenden und sich den Fall so hinzulegen, als sei da etwas Schwerwiegendes, moralisch Falsches passiert.
Natürlich ist es auch sehr menschlich, sich so zu verhalten. Das Vokabular lädt auch dazu ein, den Mann als Täter und die Frau als Opfer zu sehen. In der wirklichen Welt ist es aber oft viel komplexer. Wenn Beziehungen scheitern, ist nicht nur der eine der Täter und nicht nur die andere das Opfer. Da gibt es viele Graustufen von schlechtem, ungehörigem Verhalten bis hin zu wirklich kriminellen Handlungen oder Nötigung, was natürlich dann die Gerichte feststellen.
Aber die Verlockung bleibt, den eigenen Schmerz als etwas Moralisches zu veredeln und zu sagen, der andere hat nicht nur einfach sich von mir getrennt, sondern hat mich ausgetrickst oder mir etwas vorgemacht (auch Täuschung gehört natürlich zum Balzverhalten dazu); es war moralisch falsch, was die Person getan hat. Jetzt habe ich den Anspruch darauf, dass diese Person dafür auch öffentlich bestraft wird.
Ein anderes Phänomen ist die Vermeidung, ja Unterdrückung von bestimmten Begriffen. So liest man zum Beispiel dieser Tage, dass Udo Lindenbergs Lied „Sonderzug nach Pankow“ nicht von Chören gesungen werden darf. Die wollen den „Oberindianer“ durch „Ober“, ein langes „O“und dann ein langes „I“ dehnen. Sie werden das Wort nicht aussprechen. Und da fand ich ganz witzig, dass Wolfgang Niedecken dazu anmerkt, sie hätten als Kinder nicht „Cowboy und indigenes Volk“ gespielt, sondern „Cowboy und Indianer“.
Das ist mein Lieblingsbeispiel, weil es nachweislich falsch ist. Es gibt natürlich einige verunglimpfende Kulturpraktiken, auch Begriffe oder Wörter, die wir heute zu Recht nicht mehr verwenden, weil sie klarerweise beleidigend sind. Aber „Indianer“ gehört nun absolut nicht dazu. Die größte Interessenvertretung der Indianer in Amerika heißt „National Congress of the American Indians“. Das Büro, das dem Innenministerium unterstellt ist, heißt „Office of Indian Affairs“. Indianer in den in den USA bezeichnen sich zum Großteil eher als „American Indians“ als als „Native Americans“, wie es von Progressiven gefordert wird, obwohl viele Indianer beide Ausdrücke gar nicht zur Selbstbezeichnung verwenden, sondern einfach sagen, zu welchem Stamm sie gehören. Aber „American Indian“ ist nachweislich akzeptierter.
„American Indian“ ist außerdem der Standardbegriff in allen Forschungsartikeln bis heute. Das zeigt also, dass wir hier in Deutschland ein vollkommen falsches Bild davon haben, wer da vermeintlich beleidigt wird. Keinen vom Stamm der Dakota in den USA stört es, wenn ein Kind beim Karneval in Köln mit einem Indianerkostüm auftritt.
An diesem Beispiel sieht man wiederum: Es geht nicht darum, Indianer zu schützen, sondern es geht darum, das richtige Signal zu senden. Und noch genauer: Es geht noch nicht einmal darum, dass die Leute in den Kindergärten, Schulen und Museen wirklich glauben, dass ein Indianerkostüm zu tragen moralisch falsch ist, sondern sie wollen sich gegen Angriffe von Aktivisten versichern.
Bei der Moralkommunikation geht es nämlich nicht nur darum, zu zeigen, wie gut man ist, sondern fast noch wichtiger ist, sich vor dem Schaden, also der öffentlichen Kritik von anderen schützen. Es wäre schlimm, wenn die anderen Eltern über einen tuscheln, weil das eigene Kind beim Karneval Federschmuck auf dem Kopf trug. Und um das auszuschließen, macht man es lieber nicht. Es geht um die Versicherung und nicht darum, wirklich etwas Gutes zu tun. Eine solche Haltung ist keine Vermeidung eines moralischen Schadens, (der nachweislich nicht entstanden ist), sondern eine Versicherung gegen einen Reputationsschaden.
Das erinnert mich an Praktiken aus den 60er Jahren, als die Studentenbewegung für die Arbeiterklasse gesprochen hat, ohne sie richtig zu kennen. Insofern kann man vielleicht sagen, dass heute bildungsbeflissene deutsche Elternhäuser über eine Gruppe von exotischen Völkern spricht, die sie auch nicht kennen.
Ja, ich glaube, das kann man verallgemeinern. Wenn wir Urteile über Gruppen fällen, selbst über unsere eigene, sind diese Urteile meistens verzerrt. Viele Untersuchungen zeigen: Wir schätzen unsere eigene Gruppe, zum Beispiel unser eigenes politisches Lager, als radikaler ein, als es tatsächlich ist. Wir haben auch eine vollkommen falsche Wahrnehmung davon, wie groß Gruppen tatsächlich sind. Uns fehlt einfach das richtige statistisches Wissen, weil wir fälschlich von den fünf Leute einer Gruppe, die wir mal getroffen haben, auf alle anderen schließen.
Ich gebe mal zwei Extrembeispiele. Das eine ist das Beispiel Latinx, das habe ich auch im Buch verwendet. In Amerika sagen Aktivisten an den Universitäten, wir sollen nicht mehr Latino/Latina sagen, weil das vermeintlich diskriminierend sei, sondern „Latinx“. Das „x“ steht für alle Gender-Identitäten neben Mann und Frau.
Fragt man in den USA jedoch Hispanics oder Latinos „kennt ihr den Ausdruck Latinx?“, sagen 75 % „nein, ich habe noch nie davon gehört.“ Der Ausdruck geht also vollkommen an der Lebensrealität der Hispanics vorbei. Mehr noch: Nur 3 % aller Leute mit lateinamerikanischen Wurzeln verwenden den Ausdruck „Latinx“ tatsächlich zur Selbstbezeichnung. Das sind also gerade diejenigen Studenten, die zur Bildungselite des Landes, und nach dem Uniabschluss auch zur Einkommenselite am Arbeitsmarkt gehören. Das heißt, es ist eine Elitensprache, die überhaupt nichts mit der Realität der Mehrheit der Bevölkerung zu tun hat.
Zweites Beispiel: In Deutschland gibt es eine repräsentative Umfrage von Viola Neu, vor ein paar Jahren im Auftrag der Konrad Adenauer Stiftung, zu der Frage „Wer wählt eigentlich die AfD?“ Man hat auch Leute mit Migrationsgeschichte, (das wird normalerweise in Deutschland nicht abgefragt) gefragt, sowie Ausländer ohne Wahlrecht: „Was würden Sie wählen, wenn Sie wählen könnten?“
Und da kam heraus, dass der Migrationsanteil der AfD-Wähler etwas höher lag als der Bundesdurchschnitt.
Jetzt denkt man, das kann eigentlich nicht sein. Die AfD ist doch gerade diejenige Partei, die ganz stark gegen Migration eingestellt ist, eine in erheblichen Teilen völkisch-nationalistische, ausländerfeindliche Partei mit eindeutigen Parolen. Aber interessanterweise kommt in Deutschland ein großer Teil der Menschen mit Migrationsgeschichte aus Osteuropa, und die wählen, wenn sie könnten oder wenn sie würden, überproportional häufig AfD; vor allem diejenigen, die einen Bezug zu Russland haben, also Russlanddeutsche sind.
Doch wenn sich die akademischen, oft sehr linken Aktivisten für Migranten einsetzen, dann denken sie fälschlicherweise, jene seien genauso politisch verortet wie sie selbst. Das stimmt natürlich nicht, weil Migranten in Deutschland eine vollkommen heterogene Gruppe bilden, die aus der ganzen Welt stammt, mit ganz verschiedenen Moralvorstellungen und politischen Interessen. Deshalb muss man sich davor hüten, zu schnell solche Gruppengeneralisierungen zu treffen und sich lieber die Daten und Statistiken anschauen. Und dann wird man oft überrascht.
Vielleicht abschließend eine Beobachtung, mehr auf die Musikszene bezogen. Gerade im Jazz wird seit vielen Jahren der geringe Frauenanteil beklagt. Der ist immer noch klein, hat sich aber doch signifikant verändert. Wir werden nach meinem Dafürhalten in wenigen Jahren erleben, dass der Hauptteil des Funktionärswesens in Deutschland, was Jazz betrifft, also Veranstalter, Redakteure etc., weiblich sein wird. Meine Vermutung oder vielleicht auch Verdacht ist, dass im Zuge dieser doch inzwischen großen Minderheit man sich auch einsetzt für andere Minderheiten, die wesentlich kleiner sind. Stichwort Intersektionalität. Der Diskurs im Jazz wendet sich nach meinem Eindruck sehr stark ab vom Kern der Sache, also von der Frage: Was ist Jazz? Was wird überhaupt musikalisch diskutiert?
Typisch zum Beispiel, dass hier in Berlin zum Jazzfest 2024 kaum musikalische Aussagen im Festivalheft erfolgen, sondern alles aus Szeneaussagen besteht. Vorrangig ist immer: wer ist auf der Bühne, und wer ist nicht auf der Bühne? Das ist heute eine ganz entscheidende Frage geworden. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir eine stärkere und auch erfolgreiche Feminisierung haben, in deren Gefolge jetzt auch andere Minderheiten – möglicherweise auch ohne jede Aussicht, proportional zu berücksichtigt zu werden – sozusagen in den Vordergrund gerückt werden, zumindest diskursiv ihre Anteile haben?
Ja, ich glaube, es sind zwei Bewegungen. Zum einen gab es bis vor gar nicht allzu langer Zeit klare Formen der Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt. In der Klassischen Musik hat das die Ökonomin Claudia Goldin nachgewiesen und wurde dafür auch vor ein paar Jahren mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Sie hat das zum Beispiel durch Orchester-Vorspiele zeigen können. Wenn Musiker in persona vorspielen, wurden die Frauen seltener genommen als wenn alle Kandidaten hinter einem Vorhang vorspielen mussten. Bei den klassischen Orchestern konnte man das gut testen und im Anschluss auch ändern. So konnte man eine klare Form von Diskriminierung effektiv minimieren. Ähnliche Muster waren auch in anderen Branchen nachweisbar.
Aber inzwischen ist es am Arbeitsmarkt oft gar nicht mehr der Fall, dass Frauen zumindest bei der Einstellung benachteiligt werden, sondern in Deutschland werden seit einigen Jahren Männer mit dem gleichen Lebenslauf deutlich benachteiligt. In einem Experiment wurden insgesamt 20.000 fiktive Lebensläufe in sechs Ländern verschickt, mal von einem Bewerber, mal von einer Bewerberin. In keinem Land wurden Frauen benachteiligt, jedoch überall Männer, in Deutschland besonders stark. Das hat auch eine große Metastudie gezeigt, die all diese Experimente ausgewertet hat. Bis etwa zum Jahr 2009/2010 wurden Männer bei gleicher Qualifikation bevorzugt, seitdem schwingt das Pendel weltweit allmählich in die andere Richtung, sodass jetzt Männer systematisch diskriminiert werden.
Wie kann man das erklären?
Feminisierung ist, glaube ich, das wichtige Stichwort. Im Zuge der Feminisierung ist es uns erst mal erst einmal bewusst geworden: Es gibt diese Form der Diskriminierung.
Doch jetzt gibt es natürlich einen zweiten Effekt, dass man auch wiederum die richtigen Signale der Sensibilität für Gleichberechtigung senden möchte. Wenn jetzt auf der Bühne drei Männer und eine Frau stehen, gibt es mindestens zwei Möglichkeiten. Einerseits könnte es sein, dass das Ausdruck von Diskriminierung ist, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen. Andrerseits könnte es könnte auch einfach an unterschiedlichen Interessen liegen. Ich weiß nicht, wie es beim Jazz ist, aber an bestimmten Branchen haben Männer ein höheres Interesse, an anderen Branchen Frauen. Man wird mehr Apothekerinnen finden, weil mehr Frauen Pharmazie studieren. Man wird mehr Elektroingenieure finden, weil das einfach mehr Männer studieren. Das hat nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern es ist einfach die jeweilige Präferenz.
Jetzt habe ich aber diese Situation „drei Männer, eine Frau“. Das ist ein mehrdeutiges Signal. Es könnte sein, dass alles in Ordnung ist und niemand diskriminiert wurde. Aber auf den ersten flüchtigen Blick, ohne nachzuforschen, wirkt es eindeutig so, dass hier Männer bevorzugt werden. Ich möchte jetzt aber als Veranstalterin ein eindeutiges Signal senden. Dann sollte ich möglichst versuchen, zwei Männer und zwei Frauen auf die Bühne zu stellen. Oder wenn ich Bands einlade oder Solomusiker, sollte ich darauf achten, dass das ungefähr paritätisch ist, dann sieht es wenigstens so, als ob es fair sei. Aber das muss gar nicht der Fall sein.
Aber der Input, also wie das Verhältnis der Geschlechter aus dem Pool der Kandidaten quantitativ aussieht, eignet sich nicht für moralische Selbstdarstellung, denn dem gründlich nachzugehen, dauert viel zu lange. Da müsste die Veranstalterin eine lange Geschichte erzählen, nach welchen Kriterien sie ausgewählt hat. Der Output, den sehen die Leute sofort auf der Bühne: Mann, Frau, Frau, Frau, Mann, Mann. Das heißt, wer an einer progressiv anmutenden moralischen Selbstdarstellung interessiert ist, wird immer auf den Output schauen.
Und das ist einer der Gründe, warum viele wollen, dass möglichst repräsentative Gruppen auf Bühnen stehen, die die Bevölkerungsmehrheit repräsentieren. Obwohl das natürlich ein absurdes Unterfangen ist, weil wir einfach wissen, dass Interessen ungleich verteilt sind. Man wird für bestimmte Branchen einfach viel seltener Männer finden, für andere Branchen viel seltener Frauen. Und für bestimmte Branchen wird man seltener Leute mit Migrationsgeschichte finden. Um den Schein der Gerechtigkeit und der Fairness und Diversität hochzuhalten, muss man also paradoxerweise ungerecht sein und diskriminieren.
Wer dieses Interview liest, wer nichts über den Autor weiß und auch das Buch nicht kennt, der könnte sagen: ja, der Philipp Hübl hat gut reden. Woher weiß er denn das alles?
Gerade weil ich diesen Fehler beobachtet habe, dass wir Gruppen und Situationen falsch einschätzen, habe ich versucht, in meinem Buch ausschließlich datenbasiert zu argumentieren. Ich habe versucht, mir die größten Metastudien, die großen repräsentativen Umfragen anzuschauen, also die besten Daten, die man kriegen kann. Überall gibt es natürlich noch große Forschungslücken. Aber der Arbeitsmarkt ist wirklich sehr gut erforscht, weil das natürlich seit Jahrzehnten ein großes Ungerechtigkeitsthema ist, was die Leute beschäftigt. Und da gibt es, glaube ich, eine ziemlich klare Forschungsmeinung in der quantitativen Wissenschaft: Wenn man sich die allergrößten Untersuchungen anschaut, kann man nicht mehr sagen, dass Frauen zumindest bei der Einstellung diskriminiert werden. Diskriminierung findet man an anderen Stellen noch, etwa beim sogenannten „Motherhood Penalty“, also Nachteilen, die Mütter im Job und bei Bewerbungen haben. Aber da spielt das Geschlecht eben nur indirekt eine Rolle.
Und bezogen auf die Kulturbranche: Es gibt ohnehin keine klaren Kriterien dafür, wer der beste Schriftsteller, die beste Musikerin, der beste Künstler oder die beste Regisseurin ist, für diesen Preis oder für jenes Stipendium. Die Kandidaten sind oft alle ungefähr gleich gut, oder sie sind so verschieden, dass man gar nicht sagen kann: Wer ist jetzt besser oder schlechter? Es geht dann am Ende auch oft darum: Was sagen und denken die anderen über uns, wenn wir diese Personen fördern oder einstellen?
Typisch ist der Spruch „Wir haben zu viele weiße, heterosexuelle Cismänner“.
Ich habe das auch schon in meinem Umfeld gehört, ich bin ja selbst Teil der kreativen Klasse, ich war bei Preisverleihungen dabei, bei Stellenbesetzungen, ich kenne die Hintergründe auch in den Universitäten. Das spielt immer auch das Signal der Diversität eine Rolle.
Aber gerade diese Forderung ist natürlich besonders absurd, weil wahrscheinlich mehr als 99,9 % aller Menschen Cis sind. Cis heißt, dass mein biologisches Geschlecht mit meinem sozialen Geschlecht übereinstimmt. Es gibt ganz wenige Fälle, wo Leute eine Transidentität haben, also wo das nicht synchron läuft.
Über 90 % aller Menschen sind heterosexuell, wahrscheinlich 95 %, je nachdem, wie man zählt. Also dieser Teil der Forderung ist etwas, den man trivialerweise fast immer anbringen kann, weil die Gruppen mittlerweile so klein sind, die man da fördern will.
Aber Diskriminierung ist doch existent.
Natürlich stimmt es, dass Minderheiten diskriminiert werden. Und damit werden Grundrechte verletzt. Aber es stimmt eben empirisch nicht, dass sie etwa Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Zugehörigkeit zum Islam so stark diskriminiert werden, dass ihnen bestimmte Jobchancen verwehrt geblieben sind, wie der Sozialforscher Ruud Koopmans gezeigt hat. Die Diskriminierung ist oft eindeutig nachweisbar, aber der Effekt ist nicht so groß, dass man sagen kann, mit der dunklen Hautfarbe kriegt man keinen Job. Faktisch muss man ein paar Bewerbungen mehr schicken. Das ist tatsächlich ungerecht. Das sagt auch eindeutig das Grundgesetz. Das muss man auch bekämpfen. Das muss man verhindern; es ist auch moralisch falsch, Leute aufgrund der Hautfarbe zu diskriminieren. Für den Wohnungsmarkt gilt dasselbe: Es ist nicht so, dass man aufgrund der Hautfarbe oder des Akzents schlechtere Chancen auf dem Wohnungsmarkt hat. Die größte Metastudie zu diesem Thema fand kaum noch Effekte, sobald man große Experimente nach hohen Standards durchführt.
Vielleicht als letztes; auf der Fahrt hierher bin ich mehrfach an einem Filmplakat vorbeigekommen, Jan Josef Liefers, „Alter weiße Mann“. Interessanterweise gibt es auch in Ihrem Buch etwas zur Statistik der alten weißen Männer, nämlich dass der Rassismus in den Ländern, in denen die alten weißen Männer leben, weitaus geringer ausgeprägt ist als in den Ländern, in denen nicht-weiße, ältere Männer leben.
Der Film spielt natürlich ironisch mit einem Klischee. Aber die Vorstellung hinter dem Klischee ist wiederum ein Beispiel für eine Fehlwahrnehmung. Wenn ich mich nur in Deutschland umschaue, dann kann ich natürlich sagen: „Ja, in Deutschland ist im Mittel jemand, der etwas älter und männlich ist, auch etwas konservativer, vielleicht auch ein bisschen chauvinistischer oder, sagen wir mal traditionalistischer, was Genderrollen betrifft“.
Das ist in der Tat so. Je jünger die Generation, desto liberaler, weltoffener und feminisierter ist sie. Und Frauen sind im Westen im Mittel progressiver als Männer.
Aber sobald man den weltweiten Vergleich zieht, stimmt die Beobachtung natürlich nicht. Bei allen großen Werte-Untersuchungen, etwa dem World Value Survey, sind die westlichen Länder ganz weit vorne, was Weltoffenheit betrifft, also eher pro Einwanderung, pro Minderheitenrechte, für die Gleichstellung von Mann und Frau, gegen Vetternwirtschaft, für Klimaschutz, gegen eine starke Armee und so weiter. Umgekehrt fällt Gewalttätigkeit in diesen Ländern besonders schwach aus. Die Menschen, vor allem die Männer, sind also besonders zivilisiert und so friedlich wie niemals zuvor.
Doch dort, wo Männer besonders sexistisch sind, besonders gewalttätig, besonders traditionell und die Vorstellung haben, der Mann habe das Sagen in der Politik, in der Familie – das sind nun gerade die Länder, wo die Menschen nicht weiß wie Mittel- und Nordeuropäer sind, etwa in der arabischen Welt und in vielen Ländern Afrikas.
Deshalb sieht man schon, dass diese Einteilung in „alte weiße Männer“ der falsche Stellvertreter ist. Man will ja eigentlich etwas finden, woran man Menschen mit sexistischem und autoritärem Verhalten erkennen kann. Aber anstatt zu sagen, wir konzentrieren uns auf bestimmte Einstellungen, weil wir sexistisch-autoritäres Verhalten nicht dulden (was das es natürlich auch bei Frauen gibt) – wird das umgedeutet in die Hautfarbe und Geschlechtszugehörigkeit, weil man die Hautfarbe wiederum wieder schnell erkennen kann.
Mit dem paradoxen Effekt, dass man dann auch Aussagen wie „Alice Schwarzer ist ja eigentlich auch ein alter weißer Mann“ liest. Dass sie an vorderster Front für die Frauenrechte gekämpft hat vor 50 Jahren, spielt dann keine Rolle mehr, weil sie zu irgendeinem umkämpften Thema etwas sagt, was irgendwelchen jüngeren Feministinnen nicht gefällt.
Und daran sieht man, dass dieser Begriff „alter weißer Mann“ deshalb nicht brauchbar ist, weil man eigentlich etwas anderes kritisieren will.
Dann sollte man es aber auch genau benennen und einfach sagen: „wir kritisieren Leute, die vielleicht illiberal sind oder menschenfeindlich oder fremdenfeindlich, traditionalistisch oder konservativ“, was auch immer. Dafür gibt es bessere Begriffe, als das an der Hautfarbe festzumachen. Wer progressiv ist, kämpft für Menschenrechte, Universalismus und mehr Gerechtigkeit.
Menschen nach Geschlecht und Hautfarbe in „gut“ und „böse“ zu sortieren, ist definitiv der falsche Weg.
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